Normalerweise erwarten uns die jetzt die Kühe mit ihrem Glockengeläut, doch heute ist Ruhe. Die Kühe sind wohl schon in ihren Winterquartieren im Tal. Schön ist es trotzdem. Ich nähere mich Kilometer 10 und damit einem herrlichen steinigen Trail in einem Waldgebiet. Das hat mir immer besonders viel Spaß gemacht und ich schließe auf Bernie auf, der mir aber kurz darauf wieder entfleucht. Schon bald wartet der Anstieg zum 1650 Meter hohen Weiherkopf auf mich. Es regnet inzwischen leicht und der Aufstieg ist bereits matschig. Ich hoffe irgendwie die Führungsgruppe oben am Gipfelkreuz zu treffen, doch als ich oben ankomme bin ich alleine. Es regnet nun nicht nur stärker, von leichtem Regen ist eigentlich schon nicht mehr zu reden und der Wind frischt auf. Es ist ungemütlich, so dass ich mich gleich wieder an den Abstieg mache. Heute muss ich besonders vorsichtig laufen. Der Weg ist teilweise schmierig. Von den anderen ist nun leider gar nichts mehr zu sehen. Weder vor noch hinter mir. Unten angekommen geht es nun etwas wellig in Richtung Berghaus Schwaben weiter. Der Regen nimmt weiter zu und ein paar vereinzelte Wanderer kommen mir tief vermummt entgegen.
Der Anstieg zum Berghaus Schwaben hat es noch mal in sich und es wird deutlich kühler. Der Wind nimmt weiter zu und pfeift nun schon etwas unangenehm. Ich spiele kurz mit dem Gedanken mich im Berghaus etwas aufzuwärmen und vielleicht etwas Warmes zu trinken. Doch es sind nur noch vier Kilometer bis Grasgehren. Dort wollten wir alle eine Rast machen und wie beim echten APM etwas essen. Vielleicht warten die Führenden ja auf mich. Ich will keine Zeit vergeuden, denn die Aussicht bei diesem Wetter allein bis nach Sonthofen zurückzulaufen, ist nicht gerade prickelnd. Also weiter. Ich lasse das Berghaus rechts liegen und stelle fest, dass dort reger Betrieb ist. Scheinbar suchen die Wanderer dort Schutz vor dem Regen.
Ein paar hundert Meter nach dem Berghaus beginnt es nun leicht zu schneien. Noch bin ich amüsiert. Schnee beim APM, wann hat`s das schon mal gegeben? Ich mache mir keine großen Gedanken, ob es nun leicht schneit oder regnet ist doch egal. Es geht wieder wellig dahin, eigentlich wartet vor Grasgehren nur noch ein richtig harter Anstieg auf mich. Doch innerhalb weniger Minuten passiert etwas, das keiner von uns vorausgesehen konnte. Der Wind verwandelt sich in einen regelrechten Sturm und Schnee und Graupel peitschen mir schmerzhaft ins Gesicht. Was zur Hölle ist denn nun los? Die Temperatur sinkt deutlich auf Temperaturen im Minusbereich. Das Sturmtief „Brigitte“ ist angekommen. Davor hatte auch der Deutsche Wetterdienst wie folgt gewarnt: Am südlichen Alpenrand warnt der DWD vor Sturm- und schweren Sturmböen, auf exponierten Gipfeln sogar vor extremen Orkanböen. In Tälern können Windgeschwindigkeiten von 80 Kilometern und auf Alpengipfeln Orkanböen bis 130 km auftreten. Diese Meldung kam allerdings erst um 8:14 Uhr, zu einer Zeit, als keiner mehr einen Gedanken daran verschwendete auf eine Wetter-App zu achten.
Ich war jetzt also mittendrin im Sturmtief „Brigitte“ und das mit kurzen Hosen, einem Laufshirt und einer dünnen Jacke. Mütze oder Handschuhe sind sowieso Fehlanzeige. Schon nach wenigen Metern drehte ich den Schirm meines „APM“-Käppis nach vorne, um etwas Schutz vor den schmerzhaften Graupelkörnern zu haben. Die Sicht verschlechterte sich immer mehr. Ich starrte nur noch vor mich auf den Boden, um etwas geschützt zu sein. Manchmal musste ich aber doch den Kopf heben, um den rechten Weg nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei traf mich ein Graupelkorn schmerzhaft im rechten Auge, so dass dieses stark tränte und meine Sicht sich zusätzlich verschlechterte. Mir war inzwischen eisig kalt. Wo vorher noch Wege waren, war nun zentimeterhoher Schneematsch und der lief mir durch und in die Schuhe. Meine Füße waren klatschnass und die Zehen eiskalt.
Irgendwann kam mir die Idee mal wieder ein Foto von diesem Wahnsinn zu machen. Doch ich konnte die Kamera kaum noch halten, Geschweige denn bedienen. Auch die Finger waren steifgefroren und hatten eine ungesunde weiße Farbe. Daher steckte ich meine Hände in die Jackentaschen und ballte immer wieder eine Faust, um etwas Wärme in die Finger zu bekommen. Ich spielte mit dem Gedanken zum Berghaus Schwaben umzukehren, da dies etwas näher lag als Grasgehren. Allerdings würde es von dort kein Weiterkommen geben, nach Grasgehren führt immerhin eine Straße. Dass ich den Lauf so schnell wie möglich beenden werde, war für mich klar. Also noch irgendwie bis Grasgehren durchkommen.
Ich schlug mich weiter und kam mehr schlecht als recht voran. Den Schneematschfeldern auszuweichen versuchte ich nun gar nicht mehr. Es hatte eh keinen Sinn mehr, die Socken waren durch, die Füße klamm. Schlimmer konnte es nicht mehr kommen. Irgendwann wurde mir auch am Kopf eiskalt. So ein Käppi ist halt kein wirklicher Schutz, dennoch hielt ich sie immer wieder fest, wenn eine Sturmbö mich erfasste. Ich wollte mein Käppi keinesfalls verlieren. Ich stellte bald fest, dass sie komplett von einer ca. 2 cm dicken Eisschicht überzogen war. Das Eis klopfte ich an meiner Jacke ab und stampfte weiter. Ich musste pinkeln, doch bei diesen Umständen war dies unmöglich, obwohl ich kurz daran dachte, mir einfach über die Finger zu pinkeln, damit diese etwas wärmer werden. Ehrlich, ich habe nur daran gedacht und hab es mir doch verkniffen. Schließlich stand der letzte Anstieg vor mir.
Dieser kostete mich nochmal sämtliche Reserven. Ich hatte keine Lust mehr und wollte nur noch ins Warme. Gut, dass mich niemand hören konnte, als ich oben angekommen auch noch durch Tiefschnee waten musste. Dass ich einmal menschenselenalleine in den Bergen meinen Frust herausschreien würde, hätte selbst nicht einmal ich von mir gedacht. Doch dann war ich oben und es ging bis Grasgehren nur noch begab. Endlich wieder laufen und das auch noch halbwegs windgeschützt. Die Beine waren eiskalt und die Haut kribbelte schmerzhaft. Ich lief trotzdem. Zum einen wollte ich schnell nach Grasgehren, zum anderen hoffte ich wieder etwas warm zu werden.
Und so kam ich auch in Grasgehren an. Auf dem direkten Weg ging ich zur Berghütte Grasgehren und konnte hinter der Glasfront Bernie, Charly, Alex, Severin, sowie Angelika sehen. Auch für sie war der Lauf hier zu Ende. Ich war froh, endlich wieder jemanden zu sehen und dass schon ein Taxi bestellt war, war eine super Nachricht. Eine viertel Stunde später saß ich auch schon auf dem Beifahrersitz des Taxis und unser Fahrer drehte die Temperatur ungefragt auf 23 Grad und schaltete mir die Sitzheizung ein. Auf der Fahrt zurück bestätigte er mir, dass selbst die Einheimischen nicht mit einem derartigen Sturm gerechnet hatten, was mich etwas beruhigte. Ich machte mir aber Sorgen, da ich ja noch nichts vom Verbleib von Jan, Axel O., Andras und Judith, sowie Birgit und Norbert wusste. Auch das Axel B., Andy und Ralf weitergelaufen waren beunruhigte mich etwas.
Schließlich ging aber alles gut. Die drei kamen tatsächlich ins Ziel, auch wenn sie mit den Bedingungen schwer zu kämpfen hatten. Die hintere Truppe war schon beim Berghaus Schwaben bzw. früher ausgestiegen. Alle sind also unbeschadet und gesund wieder in Sonthofen angekommen. Das hat mich sehr erleichtert. Am Abend hatte ich nochmals Kontakt mit Axel Reusch. Er schrieb, dass er vom Tal aus gesehen hat, was sich dort oben zusammenbraut und auch er war froh, dass wir alle unverletzt und gesund wieder zurückgekommen sind. Er konnte sich beim Start ebenfalls nicht vorstellen, was da auf uns zukommen würde.
Am Ende kann ich nun den drei „Wahnsinnigen“ zum Finish zu gratulieren. Für alle Teilnehmer, die Grasgehren erreicht haben, gibt es die Wertung des Hörnerlaufs und natürlich ebenfalls Finisher-Medaillen und von Bernie gestaltete Urkunden.
Für mich wird meine Premiere als Marathon-Organisator jedenfalls stets in Erinnerung bleiben. Das hatte ich mir alles etwas anders vorgestellt. Jedoch habe ich zu keiner Sekunde mit der Entscheidung in Grasgehren aufzuhören gehadert. Dieser Lauf war einzigartig, wenn auch zeitweise grenzwertig. Zum Schluss will ich mich vor allem nochmal bei Axel Reusch für die Unterstützung und die Medaillen bedanken. Dass Du beim Start und auf den ersten Kilometern dabei warst, hat mich riesig gefreut. Mein weiterer Dank gilt natürlich Bernie, der mich bei der Planung unterstützt hat, sowie die Ausschreibung, die Erstellung der Streckenpläne und der Urkunden übernommen hat. Aber auch Jessi gilt mein Dank, die die Bänder genäht hat, was wohl aufgrund des Materials gar nicht so einfach war.
Vielleicht versuche ich mich ja mal wieder als Organisator. Spaß hat es jedenfalls gemacht, auch wenn ich – wie ich hören musste – am Wetter noch etwas feilen muss. Ich werde es versuchen. Versprochen!
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