Am nächsten Morgen staune ich, als ich aus dem Fenster schaue: Wohin ist denn der blaue Himmel verschwunden? Alles ist grau in grau, es regnet und stürmt. Na prima, so hatten wir uns das nicht vorgestellt. Trotzdem hatte ich natürlich eine Regenjacke eingepackt und die kommt jetzt auch zum Einsatz. Irgendwie will bei Charly und mir aber keine rechte Lust auf den Marathon aufkommen. Lieber wäre ich wieder ins Bett gegangen. Aber wenn man schon mal hier ist… Da unser Appartement nur wenige Fußminuten vom Start entfernt ist, gehen wir nicht zu früh los, damit wir bis zum Start halbwegs trocken bleiben.
Als wir um neun Uhr den Start des „Helgoland-Mini-Marathons“ verfolgen, entscheidet sich Petrus für eine Regenpause. Beim Mini-Marathon wird nur eine der fünf Runden des Helgoland Marathons gelaufen, also knapp über acht Kilometer. Am Start stehen aber nicht nur Kinder (wie man vielleicht vermutet), sondern alle Altersklassen sind vertreten. Besonders beeindruckend ist ein älterer Herr, der sich mit seinem Rollator auf den Weg macht. Ich überlege, ob ich wohl die Letzten des Mini-Marathons einholen kann, denn der Marathonstart erfolgt ja bereits eine viertel Stunde später. Vorab: Tatsächlich habe ich drei Läufer eingeholt, aber der Rollator-Mann war nicht dabei.
Rund 180 Läufer haben sich am Südstrand eingefunden, um Helgoland fünfmal zu umrunden. Ich mache noch schnell ein Erinnerungsfoto mit Oke, dem Organisator des Helgoland Marathons, und schon geht es los. Charly ist wie üblich gleich weg, ich winke Silke zum Abschied und versuche mich möglichst schnell tempomäßig einzusortieren. Am Musikpavillion vorbei, wo ich rund 4:30 Stunden später das Ziel erreichen will, biegen wir nach links auf die Kurpromenade ein. Gleich setzt wieder leichter Nieselregen ein.
Wir passieren den Nordosthafen, biegen zum Meerwasser-Schwimmbad ab und laufen am Erholungspark Nordost entlang. Dort findet man das Helgoland Museum und auch die Nordseehalle. Bald erreichen wir die Jugendherberge, wo Jugendliche die erste Verpflegungsstation organisiert haben. Nach nur zwei Kilometern habe ich jedoch weder Hunger noch Durst und klatsche lieber mit den Kindern ab. Durch den Erholungspark laufen wir zurück in Richtung Unterland, wo gleich der „Düsenjäger“ auf uns wartete.
Der Düsenjäger ist ein kurzer, aber steiler Anstieg, der uns vom Unter- ins Oberland bringt. Rund 40 der 75 Höhenmeter pro Runde legen wir hier zurück. Oben erwarten uns zahlreiche Zuschauer, die uns anfeuern. Entgegen meiner Befürchtung ist der Anstieg aber gar nicht so schlimm und ich erhole mich schnell bei einer leichten Bergab-Passage durch das Oberland.
Wir schlängeln uns nun durch das Oberland und erreichen bald den Klippenrandweg, den mit Sicherheit schönsten Streckenabschnitt. Heftiger Regen und starker Wind bremsen den Vorwärtsdrang, kräftige Böen bringen einem immer wieder aus der Spur. Nordseewetter halt. Ich genieße es trotzdem – das man hat ja nicht alle Tage. Ich mache die Fotos auf der ersten Runde, auch wenn sie unter dem Regen leiden. Die Atmosphäre kommt aber ganz gut rüber.
Im Nordosten des Klippenrandweges befindet sich die „Lange Anna“. Sie ist Helgolands Wahrzeichen und dürfte wohl jedem bekannt sein. Eigentlich ist die 48 Meter hohe Anna ein recht profanes Stück Gestein und zudem durch einen potthässlichen Wellenbrecher vor der stürmischen Nordsee geschützt. Ihr Oberteil ist dicht an dicht mit Vögeln besetzt, was schon alleine eine Sehenswürdigkeit ist. Wie lange die Lange Anna noch aufrecht stehen wird, kann niemand genau sagen. Die Elemente nagen an ihr und eines Tages wird sie einfach in sich zusammensacken.
Wie sehr die Insel den Naturgewalten ausgesetzt ist, bekommen wir heute live mit. Die normale Strecke über eine Aussichtsplattform direkt an der Langen Anna ist gesperrt. Ein Stück Fels ist dort vor kurzem abgebrochen und macht die Plattform instabil.
Durch Wind und Regen kämpfe ich mich weiter in Richtung Lummenfelsen. Er ist Deutschlands kleinstes Naturschutzgebiet. Die Brutvogeldichte hier ist enorm. Schon bei unserem Spaziergang am Vortag haben wir Möwen, Trottellummen, Tordalks und Basstölpel beim Brüten beobachten können. Das kann man nur auf Helgoland. Heute präsentieren sich die Vögel im Sturm als wahre Kunstflieger. Es ist faszinierend zu sehen, wie geschickt und zielsicher sie ihre Nester in den Steilwänden anfliegen. Offensichtlich macht den Vögeln das Wetter genauso viel Spaß wie mir, denn am Tag zuvor waren nicht annähernd so flugaktiv.
Weiter geht's am Klippenrandweg entlang in Richtung Leucht- und Funkturm, wo er zu Ende ist. Über ein paar Treppenstufen geht's nach unten ins Mittelland. Schnell verlieren wir die zuvor erlaufenen Höhenmeter, durchlaufen eine kleine Unterführung und danach weiter bergab. Noch macht das richtig Laune. In der letzten Runde brennen dann die Oberschenkel. Wir sind am Binnenhafen und laufen an den „Hummerbuden“ vorbei. Diese bunten Häuser waren früher Schuppen und Wohnungen der Fischer. Heute gehören sie zur Touristenmeile und stehen unter Denkmalschutz.
Wir laufen in Richtung Kringel. Der Kringel wurde zum Schutz des Inselsockels zwischen 2008 und 2009 errichtet und hat eine Länge von 480 Metern, die wir als Wendestrecke belaufen. 1850 Tetrapoden, das sind speziell geformte, 6 Tonnen schwere Betonklötze, die als Wellenbrecher aufgeschichtet sind. Einer dieser Ungetüme versperrt uns die Ideallinie. Wurde der tatsächlich von einer Welle aus der Mauer gerissen? Wahnsinn.
Dem Kringel folgt ein eher unansehnliches Industriegebiet, das aber auf Helgoland natürlich nicht allzu groß sein kann. Nach ein paar Metern bin ich durch und befinde mich schon wieder im Unterland. Es geht erneut an den Hummerbuden vorbei und schon ist der Südstrand wieder erreicht und die erste Runde ist geschafft.
Der Regen hat, ohne dass ich es bewusst wahrgenommen habe, aufgehört. Der Wind wird mich aber weiter bis ins Ziel beschäftigen, im Oberland würde ich die Verhältnisse schon als stürmisch bezeichnen. Aber, ehrlich gesagt, ich habe nach wie vor Spaß. Die Touristen, die auf dem Klippenrandweg wandern, werden mehr. Ihr Applaus und ihre bewundernden Blicke sind aber weiterhin Ansporn, die Sache durchzuziehen.
Und so spule ich meine Runden weiter ab und so gönne ich mir zwischendurch eine geistige Auszeit, indem einfach gedankenlos vor mich hinlaufe. Ein Fehler: Bei den Hummerbuden übersehe ich den Pfeil, der mich in Richtung Kringel weist, und laufe geradeaus weiter. Ein Zuschauer macht mich darauf aufmerksam, dass ich in der falschen Richtung unterwegs bin. Rund 600 zusätzliche Meter bekomme ich durch meine Dummheit aufgebrummt. Der Rest verläuft dann ohne Zwischenfälle. Charly gibt mir die Bayernfahne, mit der ich ins Ziel laufe.
Abends findet in der Nordseehalle die Siegerehrung und anschließende Marathonparty statt. Wir gehen ohne große Erwartungen hin, nur um Mal zu schauen. Aber die Diashow mit Bildern vom heutigen Marathon ist eine tolle Idee. Immer wieder kommt es zu Applaus und Jubelstürmen, wenn man sich oder einen Bekannten auf der Leinwand entdeckt.
Auch wir haben Grund zum Jubeln. Charly hat, ohne dass wir nur annähernd damit gerechnet hätten, den zweiten Platz in seiner Altersklasse belegt und darf sich auf der Bühne einen Glaspokal abholen.
Am nächsten Tag geht es mit der „Fair Lady“ zurück nach Bremerhaven und eine tolle Reise geht zu Ende. Wäre Helgoland um die Ecke und nicht so aufwändig zu erreichen, ich würde dort jedes Jahr laufen. |