Frühstart Trail de l‘Absinthe
Um 7:15 Uhr erfolgt der reguläre Start für Trail und Marathon. Heuer werden auf der Trailstrecke die Schweizer Meister im Trailrunning ermittelt, so ist ein hochkarätiges Teilnehmerfeld vor Ort. Das Zeitlimit von 12 Stunden werden die Jungs und Mädels eher belächeln, aber für etwas langsamere Starter kann das bei einer Distanz von 75 km und 3000 Höhenmetern durchaus ein ernst zu nehmendes Problem werden. Nach eingehender Analyse sind Jan und ich der Meinung, das könnte eng werden.
„Volkslauf“ nennt sich seit heuer in der deutschsprachigen Ausschreibung die Möglichkeit, zwei Stunden früher, also bereits um 5:15 Uhr an den Start zu gehen und so das Zeitlimit auf 14 Stunden zu erhöhen. Der Name kratzt irgendwie an meinem Ego, aber in der originalen, französischen Schreibweise klingt das mit „Categorie Populaire“ gleich viel besser. So entscheiden sich Jan und ich auch für die stressfreie Variante. Vom etwa 200 Teilnehmer großen Starterfeld entscheiden sich etwa 50 Trailer für den Frühstart.
Aber Vorsicht, diese Option steht wirklich nur langsameren Teilnehmern zur Verfügung. Damit sich nicht auch schnellere Läufer unter uns Rennschnecken mischen, hat der Veranstalter Vorsorge getroffen. Erst ab 9:50 Uhr darf man den Kontrollpunkt „Carrière de Môtiers“ bei Km 27 passieren. Wer zu früh da ist, muss ganz einfach warten.
Die Nacht wird laut, es gibt ein heftiges Gewitter und starken Platzregen. Aber kurz vor dem Start werden die Himmelsschleusen wieder geschlossen und die Temperaturen sind angenehm runtergekühlt. Jan und ich stehen um 5:10 Uhr an der Kontrollstelle der Pflichtausrüstung. Zwingend vorgeschrieben sind eine Regenjacke, Rettungsdecke, Trillerpfeife, Mobiltelefon, mindestens 0,75 Liter Getränk und ein eigener Trinkbecher. Ich bin wie immer gut ausgestattet und habe noch etwas wärmende Kleidung im Rucksack. Akribisch kontrolliert werden Regenjacke und Handy. Oh shit, Jan hat seines versehentlich im 1,5 km entfernten Hotel liegen gelassen. Es gibt keinen Start ohne Mobiltelefon für ihn. Muriel spricht mit den Zeitnehmern. Ausnahmsweise dürfen wir dem Feld hinterherlaufen.
Um 5:30 Uhr stehen wir wieder, aufgepumpt mit Adrenalin, an der Startlinie zu unserem exklusiven Single-Late-Start. Die Zeitnehmer haben uns registriert und die Startnummern notiert, so kann’s endlich losgehen. Eine Viertelstunde vom Zeitlimit ist aber bereits aufgebraucht, die Uhr läuft auch für uns seit dem Start des „Vorkommandos“. Die ersten 9 Kilometer verlaufen ganz flach im Tal auf kleinen Straßen, meist an der L‘Areuse entlang, die durch das ganze Val de Travers fließt. Gefühlsmäßig viel zu schnell sind Jan und ich unterwegs. Nach 5 km können wir aber dafür bereits das Schlusslicht des vor uns gestarteten Feldes einholen und wenig später gleich noch einmal zwei Starter schnappen. Das macht uns Spaß, die nächsten beiden liegen bereits im Visier.
In Noiraigue wartet die erste Verpflegungsstelle bei Km 9 auf uns, durch ein Spalier von Finishershirts der 19 vorhergegangenen Veranstaltungen werden wir empfangen. Insgesamt 9 Versorgungsstationen sind auf der Traildistanz eingerichtet. Anders als bei vielen anderen Trails setzt man hier nicht auf das Prinzip der Selbstversorgung, sondern will eine ausreichende Flüssigkeitszufuhr und Nahrungsaufnahme gewährleisten. Mit einer gefüllten Flasche kommt man so gut von Station zu Station.
Direkt im Anschluss wartet der erste Aufstieg auf uns mit etwa 900 Höhenmetern auf den nächsten 5 Kilometern. Der erste Abschnitt windet sich gleichmäßig auf einem Schotterweg nach oben. Am östlichsten Punkt unserer Strecke stehen wir plötzlich vor einer Zeitmessmatte (KM 10,8). Bei Jan und mir piepst es, so wissen wir, dass unsere Chips funktionieren. Einer ist hinter die Startnummer geklebt und ein zweiter musste am Rucksack befestigt werden. Nachdem wir die erste Wolkenschicht durchquert haben, gibt es schöne Ausblicke über das Tal mit dem abziehenden Wolkenband.
Atemberaubender Creux du Van
Kurz bevor der höchste Punkt des Aufstiegs erreicht ist, lichtet sich der Wald und präsentiert uns erste Einblicke in ein monumentales Amphitheater. Der Creux du Van ist ein riesiger, natürlicher Felsgürtel, rund 200 Meter fallen die Felsen in die Tiefe und bilden einen hufeisenförmigen Kessel von einem Kilometer Durchmesser. Die „Grüne Fee“ begrüßt uns kurz vor Erreichen des Plateaus, wo nach 14 km die zweite Verpflegungsstelle aufgebaut ist. Am VP „Le Solitat“ wird uns ein tolles Frühstück mit allem, was das Herz begehrt, auf einem unglaublichen schönen Aussichtspunkt in 1400 Meter Höhe serviert.
Normalerweise sichern sich in diesem 25 Quadratkilometer großen Naturschutzgebiet Steinböcke, Gämsen und Luchse die Logenplätze, heute dürfen wir ihren Platz einnehmen. Die Strecke führt ein paar Meter hinter der Kante an einer Felsenmauer entlang, man hat in Abständen schmale Einschnitte eingearbeitet, so kann man bis direkt an die Abrisskante gelangen. Ich gönne mir mehrmals diese kleinen Abweichungen von der Laufstrecke, die verlorene Zeit spielt da eine untergeordnete Rolle, ich will die Naturwunder auch richtig erleben, nicht nur im vorbeihuschen. An der Kante geht die sanfte Juralandschaft urplötzlich in die senkrecht abfallende Felswand über, ohne eine Absperrung, es ist atemberaubend. Ich muss tief Luft holen.
Die Naturarena ist das Resultat hartnäckiger Erosion durch Wasser und Eis über 200 Millionen Jahre, ganz unten im Talkessel sprudelt eine Quelle, die „fontaine froide“, deren Wasser das ganze Jahr über konstant 4 Grad kalt ist. Über fast 4 Kilometer kann man oben entlang der Kante laufen, über etwa die Hälfte verläuft die Laufstrecke. Aber die Show geht noch weiter. Über die weitläufigen Wiesenflächen der Hochebene wird uns eine grandiose Aussicht über das Schweizer Mittelland hinüber zu den Alpen geboten. Mont Blanc, Matterhorn und Eiger liegen vor uns, alles Orte, wo Trailrunner weitere Träume wahr machen können.
Sehr abwechslungsreich führt der Weg hinunter ins Tal. Immer wieder führen uns die Wegweiser direkt durch meterhohe blühende Wiesen, wo man nur noch den niedergetretenen Gräsern der Vorläufer folgen kann oder Ausschau nach einem Fähnchen halten muss, um die Fährte im Blick zu behalten. An kritischen Stellen sind aber Helfer postiert, ich werde heute mehrmals zurückgepfiffen. Manchmal sind auch längere Abschnitte über Schotterwege und kurze Asphaltstücke dabei. Hier kann man viel Zeit gutmachen, der 13 Kilometer lange Bergab-Teil ist meist problemlos in höherem Lauftempo zu bewältigen.
Nach 3:40 Stunden Laufzeit erreichen Jan und ich die erste und auch wichtigste Cut-Off-Stelle in „Carrière de Môtiers“. 27 Kilometer sind hier absolviert. Alle Trailer müssen diesen Punkt bis 12:15 Uhr passiert haben, für die regulären 7:15-Uhr-Starter also nach genau 5 Stunden. Wer später ankommt, wird automatisch auf die Marathonstrecke umgeleitet und dort gewertet. Hier findet noch kein Ausschluss des Läufers statt. Das Zeitlimit müsste aber normalerweise für alle problemlos zu schaffen sein.
Neben Trail und Marathon kommen hier auch alle Teilnehmer der anderen Strecken durch, dementsprechend viel ist an der Station los. Viele Zuschauer haben sich eingefunden und eine Gruppe sorgt mit Guggenmusik für Unterhaltung. |