Trient, km 72 – Zeitlimit 18:00 Stunden
Wieder zurück am See. Ich weiß nicht, wie ich durch die Nacht kommen soll. Ich habe überhaupt keine Hoffnung, den Lauf zu überstehen. Ich schließe mich einer Gruppe Franzosen an, um irgendwie mit gezogen zu werden. Bis zur nächsten VP in Trient stehen 16 km und 900 Höhenmeter durch die rabenschwarze Nacht vor uns. Zweieinhalb Kilometer führen erst noch leicht bergab, zuerst auf Schotter, später durch den Wald. Die Gruppe wird immer größer, es entsteht ein richtiger Zug. Dann beginnt der unter UTMBlern berüchtigte Aufstieg zum Bovine. Ich sehe nur die Rückseite des Vordermannes und einen kreisförmigen Ausschnitt des Bodenbelages vor den eigenen Füßen. Den sollte man auch immer gut im Auge haben, denn das Gelände ist ziemlich unwegsam. Erschreckend ist der Blick nach oben. Dutzende von Lichterpunkten in einer endlosen Kette bis weit über uns. Das ist unser Weg.
Für viele ist es ein Aufstieg des Leidens, die ersten nehmen den Rückweg und kommen uns wieder entgegen. Andere stehen oder sitzen am Seitenrand und japsen nach Luft. Ich spüre plötzlich Kräfte in mir, die ich schon lange, sehr lange herbeisehne …nach 60 km. Innerhalb weniger Kilometer macht meine Gefühlszustand eine 180 Grad-Drehung. Bin jetzt voller Kraft und Zuversicht. Ich will unbedingt die Finisherweste und ich weiß, ich werde es schaffen, wenn ich innerhalb der Zeit bleiben kann.
Wir verlassen den Schutz der Bäume und sind fast oben. Am Bovine ist ein Versorgungszelt errichtet, unsere Nummern werden gescannt. Verpflegung und Getränke werden wie in vergangenen Jahren leider nicht mehr angeboten, zu schwierig ist der Transport hier herauf. Die Helfer haben ein Lagerfeuer zum Wärmen angezündet. Überall verstreut um Feuer und Zelt liegen Läufer in ihre Goldfolien gehüllt. Es sieht aus, wie in einem Feldlazarett. Die wenigsten machen noch einen Muckser. Der Bovine selektiert die Teilnehmer, fordert viele Opfer. Der Schein meiner Lampe ist nur mehr schwach, ich nützte die Wärme des Feuers, um hier einen Batteriewechsel vorzunehmen. Das dauert etwas, mein Zug ist jetzt weg.
Kein Problem, mit frischem Saft in Lampe und Körper brauche ich niemand mehr, um meinen Weg weiter fortzusetzen. Es geht noch ein paar Höhenmeter weiter hinauf bis zum Colett Portallo (2.049 m), dem höchsten Punkt dieses Abschnittes. Ein Glockenkonzert erinnert mich daran, dass ich nicht alleine hier oben bin. Nach einem Viehgatter passiere ich die friedlichen Unruhestifter. Schwarze Rinder in tiefschwarzer Nacht. Auf der Lichtung hat man einen wunderbaren Ausblick auf das Lichtermeer von Martigny weit unten im Tal. Ich komme alleine mit voller Beleuchtung schneller voran als ich gedachte hätte und kann beim Abstieg viele Läufer wieder überholen.
Aber auch der Abstieg ist hart, geht bei vielen bis an ihre Schmerzgrenze. Eine Läuferin sitzt am Wegesrand und weint, Minuten später kann ich ihr Klagen durch die Nacht hören. Aber ich bin jetzt stark. Die Lichter von Trient kann man schon weit oben am Berg ausmachen, bis hinunter zieht es sich noch und die letzten Kilometer sind deutlich steiler wie zu Beginn. Ein „Verrückter“ lässt am Ortseingang von Trient um 3:00 Uhr in der Früh die Bevölkerung am Lauf teilnehmen, in voller Inbrunst bläst er in sein Instrument. Ein Schleife durch Trient, jetzt Zeitmessmatten, keine Handscanner, es wird die Eingangs- und Ausgangszeit gestoppt. Ich liege knapp unter dem Cut.
Das Zelt ist voll, ein DC sorgt für Stimmung. Jetzt macht mir das nichts aus. Fühle mich gut und habe Hunger wie ein Wolf. Der Käse und die Salami schmecken phantastisch, ich hau mir den Wanst voll. Dazu viel Kaffee und Cola. Ich benötige nur ein paar Minuten, dann bin ich wieder weg. Muss ich auch sein, die Zeit treibt mich voran. Ich will die Weste.
Vallorcine, km 82 – Zeitlimit 21:30 Stunden Bis zur nächsten Zeitbarriere in Vallorcine sind 10 km und 850 Hm im Auf- und 880 Höhenmeter im Abstieg zu überwinden. Man gibt uns 3,5 Stunden Zeit dafür. Detaillierte Informationen werden uns jeweils in den Verpflegungsstellen als Grafiken mit Höhendiagramm zur Verfügung gestellt. Ein toller Service. Es gibt keine Einrollphase, unmittelbar nach Ortsende geht es steil hinauf zum Catogne, wieder über 2.000 m. Ich benötige jetzt keinen Zug mehr, bin aber nie alleine unterwegs. Es sind noch sehr viele in diesem Zeitenfenster unterwegs. Ohne Schwächephase ziehe ich den Aufstieg in einem Rutsch durch. Scan am Zelt, ein Schluck Cola und weiter.
Wesentlich mehr Probleme bereiten die Abstiege. Der Tau hat Steine, Wurzeln und alles, was im Weg liegt, glitschig werden lassen. Immer wieder Fast-Stürze bei mir, meine Stöcke bewahren mich vor Bodenkontakt. Die Streckenausschilderung ist das Beste, was es in der Nacht geben kann. Meist schon von Weitem sieht man, wohin der Weg führt. Die Reflektoren an Markierungen und Bekleidung und sind das einzige, was uns durch die dunkle Nacht begleitet. Manche Trailer leuchten wie Christbäume, andere Silhouetten gleichen Robotern. Dann gibt es auch welche, die vollkommen ohne und schwarz durch die Nacht marschieren.
Ich kann vor Müdigkeit kaum mehr meine Augen offen halten, es fast 6 Uhr. Aber ich bin nicht der einzige der Probleme hat. Stürze von Kameraden vor mir häufen sich, alle verlaufen glimpflich. Der Abstieg wird immer brutaler, meine Oberschenkel jammern. Dann erwischt es mich auch, ich setzte mich auf den Hintern. „Ok, ok, tout ok!“. Mir ist nichts passiert.
Um 6:26 Uhr passiere ich im Dämmerlicht die Zeitmessung am Zelteingang in Vallorcine. Die Cut-Off-Zeit liegt bei 6:30 Uhr. Dazu kommen noch 25 Minuten für die zweite Startreihe und Streckenverlängerung. Das ist nicht einmal eine halbe Stunde, dazu noch mit Unsicherheitsfaktor. Ich muss mich jetzt dringend aufputschen, die Müdigkeit aus meinem Körper vertreiben. Ein großer Kaffee, Cola und zwei dieser eklig süßen Gels gönne ich mir. Hunger habe ich nicht, bin nur müde. Aber ich muss weiter, die Zeit drängt.
La Flégère, km 93 – Zeitlimit 25:00 Stunden
Als ich das Zelt verlasse, ist es fast hell, innerhalb ein paar Minuten ist die Nacht gewichen. Aber auch meine Müdigkeit. Noch ein Berg muss bezwungen werden, knapp am Zeitlimit. Ich stehe jetzt unter Hochspannung. Meine Weste wartet im Ziel in Chamonix. Die ersten 4 km bis zum Col de Montets sind nur mäßig steigend, man kommt gut voran. Es geht an der L’Eau Noire entlang. Stopp, ich muss anhalten, laufe im Tageslicht ausschließlich mit meiner Sonnenbrille, mit ihr fühle ich mich am wohlsten.
Nach Überqueren der Autostraße beginnt der letzte strenge Anstieg über den Tête Aux Vents nach La Flégère. Es bleibt uns nichts erspart, es ist einer der steilsten Abschnitte des kompletten Kurses über Steine und Felsen. Dazu ist der schmale Pfad um diese Zeit stark frequentiert, viele Wanderer und auch Gleitschirmflieger sind bereits unterwegs. Aber es ist auch ein Aufstieg der sich lohnt. Noch unterhalb des höchsten Punktes erhebt sich majestätisch der „weiße Berg“ in den strahlend blauen Himmel vor uns. Zum ersten Mal ist er für die Teilnehmer des CCC von diesem Streckenabschnitt aus zu sehen. |