Wie doch die Zeit vergeht. Fünfzehn Jahre sind seit meiner Marathon-Premiere vergangen. Fünfzehn Jahre, in denen viel passiert ist und in denen ich so manchen Marathon gelaufen bin. Mein erstes Mal war in München und sein erstes Mal vergisst man nie - sagt man jedenfalls. Wenn ich an den München Marathon denke, verschwimmen die Erinnerungen etwas, was möglicherweise auch daran liegt, dass ich in diesem Jahr bereits zum siebten Mal in München an den Start gehen werde. Damit komme ich in München mit meinem virtuellen Lauf auf acht Teilnahmen und das nicht nur, weil er quasi vor der Haustüre liegt. Nein, mir gefällt der Marathon in unserer Landeshauptstadt. Die Mischung aus Natur im Englischen Garten und Sightseeing in der Innenstadt finde ich genial, zudem ist das Münchner Publikum immer mit viel Herz und guter Stimmung dabei.
Fast wäre mir der München Marathon in diesem Jahr durch die Lappen gegangen. Noch nicht ganz in Marathonform, entschied ich mich zunächst gegen eine Teilnahme. Bei einem Stadtmarathon sollte zumindest eine Laufzeit von unter fünf Stunden drin sein und das ist es aktuell noch nicht. Es fehlen mir die langen Läufe und vor allem das Vertrauen in meine Wirbelsäule. Das alles braucht noch etwas Zeit und die will und muss ich mir auch nehmen. Ganz so viel Zeit hat mein Laufbruder Jürgen Englerth nicht. Er muss in vier Wochen beim New York Marathon die 5:30 Stunden pacen und hängt auch noch etwas hinten nach. Daher kam ihm die Idee mal bei mir nachzufragen. Gemeinsam, ganz langsam und gemütlich und das Ganze innerhalb des Zeitlimits von sechs Stunden. So wird auch für mich ein Schuh draus und wir nutzen am Samstag vor dem Marathonwochenende die Nachmeldefunktion auf der Homepage des München Marathons.
Damit wird es am Sonntag halt mal wieder nichts mit ausschlafen und ich parke pünktlich um halb acht auf der Parkharfe des Olympiageländes ein. Jürgen überreicht mir meine Startnummer, die er dankenswerterweise am Samstag für mich abgeholt hat. Es ist mit sechs Grad noch nicht wirklich warm und wir verkriechen uns nochmal ins Auto, um uns fertig zu machen. Der Weg führt uns schließlich direkt ins Olympiastadion, denn es gibt eine Neuerung. Nicht nur das Ziel, sondern auch den Start findet man seit dem vergangenen Jahr im Stadionrund. Während der Start langsam näher rückt, kann ich my4-Kollege Toni Lautner begrüßen. Erstaunlicherweise treffe ich in München immer nur wenig bekannte Gesichter. Heute sind nur noch Judith und Andreas, sowie Armin und zwei oder drei namentlich nicht bekannte Mitläufer am Start, die ich kenne. Alexandra aus Wexford in Irland ist auch da, das erfahre ich leider erst im Nachhinein, so dass wir leider nichts ausmachen konnten. Zuletzt hatten wir uns an gleicher Stelle bei einem Metallica-Konzert getroffen.
Es sind noch zehn Minuten bis zum Start. Jürgen und ich machen uns in Richtung Südtribüne auf, von wo aus wir Zugang zum Startbereich haben. Die unterschiedlichen Startblöcke werden in markierten Kanälen die Treppe hinabgeschickt, was durch Ordner kontrolliert wird. Jürgen und ich erkennen eine Chance, ein paar Extraminuten für uns herauszuholen. Bei der Nachmeldung mussten wir keine Finisherzeit angeben, so dass auch unsere Startnummer mit keinem Block markiert ist. Wir nehmen den Abgang für den Block B, der avisierten Laufzeiten von unter vier Stunden vorbehalten ist. Auf Nachfrage erklären wir dem Ordner, dass sich eine Zeit von unter vier Stunden für uns locker ausgehen sollte, was dieser, ohne Zweifel erkennen zu lassen, akzeptierte.
Wir haben damit eine viertel Stunde gegenüber Block D gut gemacht, ohne auch nur einen Meter gelaufen zu sein und die Gewissheit, dass man uns zumindest optisch noch gute Zeiten zutraut. Die Lauftaktik von Jürgen ist damit auch klar. Aus dem Stadion und bis zum Ende des Olympiaparks legen wir eine kleine Tempoeinheit ein, um nicht allzu sehr im Weg zu sein, denn einen u6-Schnitt können wir sicher nicht laufen. Danach laufen wir einfach im Wohlfühltempo weiter und das nach Möglichkeit, bis km 30 ohne Gehpausen einlegen zu müssen. Damit wäre mein Tagesziel auch schon erledigt. Die verbleibenden 12 Kilometer bekommen wir dann auch noch irgendwie hin. Über das Wie wollen wir entscheiden, wenn es so weit ist.
Die Elite wird schon mal auf die Reise geschickt. Unter ihnen sind Läufer und Läuferinnen aus Äthiopien, Eritrea und Kenia. Sowohl bei den Männern als auch bei den Frauen sind heute jeweils die ersten Drei schneller als der bestehende Streckenrekord. Da hat der Veranstalter scheinbar beim Antrittsgeld bzw. bei den Siegprämien etwas Geld in die Hand genommen, um den eigenen Marktwert zu steigern. Ich stelle mich nun etwas auf die Zehenspitzen, nicht etwa, um den Eliteläufern nachzuschauen. Mein Interesse gilt dem Starter, der mit seiner Pistole in unmittelbarer Nähe von mir stehen müsste. Frank Shorter, Marathon-Olympiasieger von 1972 kehrt nach fünfzig Jahren an den Ort seines größten Triumphs zurück. Er wird den Startschuss für den München Marathon geben und später selbst beim 10-km-Lauf an den Start gehen. Diesen wird der inzwischen 75-Jährige übrigens in 1:33:00 Stunden finishen und braucht damit dreimal so lange wie der Sieger. Willkommen im Club Frank Shorter! Schließlich konnte ich auch einen Blick auf Frank erhaschen, was mir aber erst zu Hause klar wurde. Ich hätte vielleicht mal die Bildersuche vorab bemühen sollen. 50 Jahre verändern einen Menschen, wer hätte das gedacht.
Nur fünf Minuten nach der Elite sind wir dran. Nach einem gefühlten Sprint über 150 Meter verlassen wir das Stadion durch das Marathontor und können leicht herausnehmen. Etwas über einen Kilometer laufen wir auf dem Spiridon-Louis-Ring durch den Olympiapark bis zur Ackermannstraße. Wir ziehen bis dahin noch so gut wie möglich mit und werden nach und nach ans Ende des Feldes der sub4-Läufer durchgereicht. Auf der Ackermannstraße sind wir dann schon fast alleine und warten bis uns das sub4:30-er Feld einholt. Schnell haben Jürgen und ich unser Wohlfühltempo erreicht, was zu Jürgens Überraschung deutlich schneller ist als sein momentanes Trainingstempo. Wir machen uns darüber keinen Kopf und traben nebeneinanderher.
Apropos nebeneinander traben. Jürgen und ich sind uns zu dieser Zeit noch gar nicht bewusst, dass wir heute zwei absolute Hingucker werden und das nicht nur bei den Zuschauern, sondern auch bei den Mitläufern. Die Anzugsordnung für uns war natürlich die obligatorische Lederhose, sowie Bernies geniales Jubiläumsshirt. Irgendwann später werde ich zu Jürgen sagen, dass wir eine Strichliste für das Wort „Lederhose“ hätten machen sollen. Ein DIN A4-Blatt hätte vermutlich nicht ausgereicht. Aber auch das Shirt kam gut an. Wir wurden von einem Zuschauer darüber informiert, dass den Olympischen Marathon damals ein gewisser Frank Shorter gewonnen hat. Danke schön für diese Info. Der 5h-Pacer, ließ seine Begleiter kurz ziehen, um alle Infos über diesen Lauf zu erhalten. Zwei ältere Damen, die wir mehrfach an der Strecke sahen, konnten wir schon immer von weitem hören: „Da sind sie ja wieder! Unsere Lederhosen-Buam!“. Einmal mussten wir dann auch für ein Foto stoppen. Das wollten sie sich unbedingt als Andenken behalten.
Wir laufen also durch Schwabing in Richtung Leopoldstraße, die für mich immer das erste Highlight des München Marathons ist. Historische Gebäude und Kirchen säumen die breite Straße, vor uns erhebt sich das Siegestor und die schnelleren Läufer, wie auch die führenden Damen kommen uns entgegen. Zahlreiche Zuschauer sind auch schon an der Strecke und machen ordentlich Stimmung. Dafür liebe ich diese Stadt und diesen Marathon. Jürgen und ich laufen winkend auf den Triumphbogen aus dem 18. Jahrhundert zu, denn für jedes „Lederhose“ wird natürlich auch brav gegrüßt. Kurz vor dem Odeonsplatz werden wir nach rechts weggeschickt.
Die Schleife durch die Maxvorstadt, die unter anderem am Obelisken am Karolinenplatz vorbeiführt, wurde nun an den Anfang des Marathons gelegt. Jürgen und ich sind uns einig. Diese Änderung nehmen wir gerne an, da die Schleife am Ende doch meistens äußerst zäh war. So sind wir noch frisch und freuen uns trotzdem als wir zurück auf der Leopoldstraße sind. Nun geht es noch kurz runter zum Odeonsplatz, der mich immer wieder aufs Neue begeistert. Die Feldherrenhalle mit der Residenz, die Theatinerkirche, sowie das Bazargebäude bilden einfach ein super Ensemble. Wir wenden und dürfen dieses schöne Stück München somit sogar zweimal genießen. Es geht wieder die Leopoldstraße rauf, vorbei am Siegestor und uns kommen nun die Läufer entgegen, die noch hinter uns liegen.
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