München 1972 – Start Marathonlauf
Am Sonntagnachmittag, den 10. September 1972 um 15.00 Uhr machen sich 74 Athleten aus 39 Ländern auf den Weg durch München. Während sie nach dem Start drei Runden im Stadion drehen, beginnt gerade das Hochsprung-Finale der Männer. Bevor die Marathonläufer um 17.15 Uhr zurückerwartet werden, stehen noch die Staffeln auf dem Programm. Große Favoriten sind unter den Läufern von den Experten nicht auszumachen, man hofft auf einen spannenden Wettkampf. Für die Bundesrepublik Deutschland sind Paul Angenvoorth, Manfred Steffny und Lutz Philipp am Start. Die DDR wird durch Eckhard Lesse vertreten.*
Unser Start ist für 10 Uhr vorgesehen und wir werden auch pünktlich mit unserem Fototermin und Übergaben fertig. Wir stellen uns auf, Andreas zählt von 10 runter und los geht’s. Leider haben wir nicht das sonnige Wetter von 1972. Pünktlich zum Start kommen ein paar Regentropfen vom Himmel. Unsere ersten Meter führen uns noch weiter in den Olympiapark und unter Teilen seiner futuristischen Zeltdachkonstruktion hindurch.
Die 74.800 Quadratmeter große Dach-Konstruktion überspannt die Olympia-Halle, -Schwimmhalle und -Stadion. Rund ein Jahr lang mussten die Architekten nachweisen, dass das Zeltdach wirklich konstruierbar sei, dazu konnten sich manche Entscheidungsträger kaum vorstellen, dass die Verbindung von Stahl und Acrylglas über 50 Jahre und weit darüber hinaus, halten kann. Ein ursprünglicher Plan sah sogar vor, das Zeltdach nach den Olympischen Spielen wieder abzubauen. Das Echo der Weltpresse verhinderte eine Demontage. Heute zählt das Olympiastadion zu den wichtigsten Bauten der bundesdeutschen Nachkriegsarchitektur, steht unter Denkmalschutz und für mich ist es das schönste Stadion der Welt. Obwohl ich schon des Öfteren hier war, bin ich immer wieder aufs Neue von der Architektur begeistert.
Über die Hanns-Braun-Brücke überqueren wir den Georg-Brauchle-Ring und durchqueren den Olympiapark Nord. Rechts von uns liegt das ehemalige Olympische Dorf, wir halten uns aber links Richtung Westen. Nach knapp drei Kilometern erreichen wir die Hanauer Straße und biegen ein ins Münchner Straßennetz. An allen Straßen entlang führen breite Rad- und Fußgängerwege, so kommen wir relativ unbehindert vorwärts. Selbstverständlich sind auch einige Ampeln auf Rot, die für kurze Stopps sorgen, aber wir haben es heute nicht so eilig wie Frank Shorter und Co.
Über den Windrichring gelangen wir am Westfriedhof entlang in den Münchner Westen. Nach 5 Kilometern biegen wir nach rechts in die Allacher Straße nach Untermenzing. Hier gibt es kaum mehr Autoverkehr und wir könnten teilweise sogar fast auf der Straße laufen, wie es 1972 der Fall war. Mittlerweile fällt kein Regen mehr, das macht es noch angenehmer. Das Teilnehmerfeld hat sich bereits in mehrere, kleine Gruppen aufgesplittet.
München 1972 – Im Nymphenburger Park
Die Temperatur von 21° C sorgt für ein optimales Rennen. Eine 29-köpfige Gruppe absolviert die ersten 5 Kilometer in 15:51. Im Nymphenburger Park teilt sich der australische Weltrekordhalter Derek Clayton die Führung mit dem Briten Ron Hill. Zwischen Kilometer 10 und 15 beschleunigt sich das Tempo und der US-Amerikaner Frank Shorter übernimmt mit 5 Sekunden Vorsprung die Spitze des Feldes. Er wurde in München unweit der Marathonstrecke geboren, seine Eltern waren nach dem Zweiten Weltkrieg dort zum Militärdienst stationiert.*
Die Leipziger Mädels hinter mir, sind der gleichen Meinung, wir verweilen am nächsten Übersichtspunkt kurz und saugen das Panorama auf, dazu machen wir ein paar Schnappschüsse. „Wow, noch mit einer richtigen Digitalkamera“ bekomme ich zu hören. Ist vielleicht etwas Old School, dafür aber wesentlich komfortabler als mit einem Smartphone.
Der Zugang zum Nymphenburger Schlosspark nach gut 10 Kilometern ist etwas ungewöhnlich und fast zu übersehen. Eine weiße Holztüre führt uns in den Park der weitgehend von der historischen Gartenmauer umschlossen ist. Als 1664 mit dem Bau des Schlosses und der Parkanlage begonnen wurde, war der Bauplatz ein Ort auf freiem Feld, zwei Stunden von München entfernt. Heute ist der Schlosspark eines der größten und bedeutendsten Gartenkunstwerke Deutschlands, steht unter Denkmalschutz und ist Landschaftsschutzgebiet. Vorbilder waren die französischen Gärten von Schloss Vaux-le-Vicomte und Schloss Versailles.
Normalerweise ist der Park immer gut besucht, aber die dunklen Wolken scheinen viele heute von einem Besuch abzuhalten, was es für uns noch entspannter macht. Erster Fotostopp ist an den zwei Brunnenbecken der Großen Kaskade im hinteren Teil des Parks. Nach vorne durchquert der Mittelkanal den kompletten Park, wir können bis vor zum etwa 1,2 km entfernten Schloss blicken. In den Anfangsjahren schipperten bis zu 80 Gondeln und Prunkboote im Schlosskanal.
Einen Kilometer weiter passieren wir die Badenburg am Großen See. Sie ist im August 300 Jahre alt geworden. Das Lustschloss vereint einen Festsaal, ein kurfürstliches Apartment und einen großen Badesaal. Das mehr als 50 Quadratmeter große Badebecken war in seiner Zeit nicht nur als Kunstwerk, sondern auch in technischer Hinsicht vergleichslos. Es ist das erste bekannte beheizbare Hallenbad der Neuzeit (also seit der Zeit der Römer) in Europa. Es befindet sich im Untergeschoss und misst 8,70 mal 6,10 Meter. Da kommen wir leider nicht runter, ohne Eintritt zu bezahlen.
Nach 13 km stehen wir am Aufgang zu Schloss Nymphenburg. Grund für die Errichtung der Sommerresidenz war für das bayerische Kurfürstenpaar Ferdinand Maria und Henriette Adelaide von Savoyen, die Geburt des Thronerben Max Emanuel. Über Jahrhunderte war das Schloss eine Lieblingsresidenz der bayerischen Könige. Am 25. August 1845 erblickte wohl der bekannteste von allen, König Ludwig II. hier das Licht der Welt.
München 1972 – Durch den Hirschgarten
Frank Shorter kann das Tempo hochhalten und baut nach 20 Kilometern seinen Vorsprung im Hirschgarten auf 29 Sekunden vor dem Belgier Karel Lismont aus. Der liegt eine Sekunde vor Mamo Wolde, Nikkari Usami und Jack Bacheler.*
Vorbei am Botanischen Garten, der an den Schlosspark anschließt, laufen wir am Windrichring bis zur Südwestecke des Westfriedhofes, die wir auf der gegenüberliegenden Straßenseite bereits beim Herlaufen passierten und von wo wir uns jetzt für einige Kilometer stadteinwärts orientieren. Am östlichen Ende des Nymphenburger Kanals führt uns die Südliche Auffahrtsallee noch einmal zurück bis vor die Tore von Schloss Nymphenburg. Einigen Passanten ist bereits aufgefallen, dass hier vermehrt Läufer durchkommen und erkundigen sich. „Waren sie denn damals auch schon dabei?“ werde ich gefragt.
Als nächste Grünanlage wartet der Hirschgarten auf uns, den wir in östlicher Richtung durchqueren. 1780 beauftragte Kurfürst Karl Theodor seinen Oberstjägermeister ein Jagdrevier für den Adel anzulegen. Ein Teil des Areals wurde eingezäunt und 100 Damhirsche ausgesetzt. In den Jahren 1958/59 wurde der nordöstliche Teil des Parks zum städtischen Erholungsgebiet umgestaltet, etwas später erfolgte noch der Ausbau zur öffentlichen Parkanlage mit Erweiterung nach Süden. Angeblich ist der Biergarten hier, der größte der Welt mit 8000 Plätzen. In etwa 200 Meter Entfernung passieren wir auch heute noch, ein Gehege mit Damwild und Muffelwild, die werden aber nicht mehr gejagt. Nach einem Kilometer sind wir durch.
München 1972 – Sightseeing durch die Innenstadt
Nach 25 Kilometern läuft Frank Shorter immer noch leichten Schrittes am Stiglmaierplatz vorbei, Richtung Königsplatz. Sein Vorsprung beträgt bereits 57 Sekunden. An der Getränkestation bei km 26 beobachten ihn Reporter und fragen sich, was er da trinkt und ob es etwas mit seinem großartigen Auftritt zu tun hat? In seiner Plastikflasche ist eine dunkle Flüssigkeit auszumachen mit dem internationalen Zeichen für Strahlengefahr darauf. Der Zaubertrank darin entpuppt sich als nichts anderes als Coca-Cola.*
In der Maxvorstadt können wir die Gebäude und Produktionshallen von alten Münchner Traditionsbrauereien sehen. Mittlerweile sind alle irgendwie verbandelt und in einer AG eingegliedert und gehören zum größten Bierkonzern der Welt mit Brauereistandorten in 23 Ländern.
Die prachtvolle Brienner Straße führt uns zum Königsplatz, einem der schönsten Plätze Münchens. Konzipiert wurde er nach dem Vorbild der Akropolis in Athen. Ich habe noch eindrucksvoll die Bilder vor mir von der Mega Stimmung, die hier vor einigen Wochen über mehrere Tage herrschte bei den European Championships. Beachvolleyball und die Kletter-Wettbewerbe mit Lead, Bouldern und Speed wurden auf dem Königsplatz ausgetragen. Heute können wir ungehindert durchlaufen und die prachtvollen Gebäude fast allein genießen. Den Eingang markieren die Propyläen, das imposante Stadttor stellt den Tempeleingang der Akropolis nach.
Rechterhand liegen die Staatlichen Antikensammlungen, sie sind eine der größten Antikensammlungen in Deutschland insbesondere für griechische, etruskische und römische Kunst. Die Glyptothek liegt genau gegenüber und ist dem griechischen Freiheitskampf gewidmet. Die rund 200 Meter langen Tempelbauten erfüllten zu Zeiten von König Ludwig I. keinen Sachzweck, dienten einzig als Symbol antiker Ästhetik. Die riesigen Rasenflächen vor den Monumenten präsentieren sich sattgrün und makellos, scheinen also bei den zurückliegenden Meisterschaften keinen Schaden genommen zu haben. So soll es doch auch sein.
400 Meter weiter erreichen wir den Karolinenplatz mit dem Obelisken in der Mitte, der als Ehrenmal für die bei Napoleons Russlandfeldzug gefallenen Soldaten der Bayerischen Armee errichtet wurde. Auf drei Stufen aus Marmor erhebt er sich auf fast 30 Meter. Die Bronzeplatten, mit denen der Obelisk verkleidet ist, wurden aus Bruchmetall von zumeist eroberten Geschützen hergestellt.
Damit ist unsere Sightseeingtour aber noch lange nicht beendet. Gemeinsam mit Andreas, Judith, und Alois – der überraschender Weise nicht aus Bayern kommt, sondern aus Brandenburg – erreichen wir den Odeonsplatz am Rande der München Altstadt. Läuferisch müssen wir uns hier natürlich zurückhalten, in dieser zentral gelegenen Fußgängerzone wimmelt es nur so von Menschen. Was uns jetzt auch nicht sonderlich stört. Andreas fungiert, wie schon auf dem 27 km langen Anlaufweg als perfekter Fremdenführer. Ich hab fast das Gefühl, er kann zu jeder Straße, jedem Gebäude und Sehenswürdigkeit irgendetwas erzählen. So ein exklusives Vergnügen hat man nicht alle Tage.
Direkt vor uns liegt das Eingangstor zum Hofgarten. Die historische Parkanlage entstand ab 1613 unter Herzog Maximilian I. In der Mitte des Renaissancegartens befindet sich ein Pavillon, der Dianatempel. Einen schönen Blick auf den Odeonsplatz und die Ludwigstraße bekommen wir nach rechts auf den klassizistischen Bau der Feldherrnhalle. Sie wurde zu Ehren des bayerischen Heeres errichtet. Zwei große Löwen aus Marmor stehen an der Treppe Spalier. Einer Münchner Sage nach, soll ein geheimer Wunsch erfüllt werden, wenn man einem der beiden Bronzelöwen die Nase reibt.
Direkt daneben baut sich die imposante Fassade der Theatinerkirche St. Kajetan auf. Sie entstand im späten 17. Jahrhundert im Stile des italienischen Spätbarocks. Besonders auffällig ist die gelbe Außenfassade, die schon von Weitem zu sehen ist. Einen kleinen Stilbruch aber nicht viel weniger auffällig stellt der davor platzierte knallblaue Bierstand in Form eines riesigen Biertragels dar, aber natürlich muss auch der Durst der Besucher von München gestillt werden.
Die Aufzählung prominenter Gebäude rund um den Odeonsplatz könnte man jetzt noch lange weiterführen …ich glaube wir laufen lieber weiter. Wir biegen nach links in die Ludwigstraße ein, eine der bedeutendsten Prachtstraßen der bayerischen Landeshauptstadt, wo wir einige exklusive Schaufenstereinblicke erhalten und die beweisen: italienische Nobelschmieden können auch stylische Fahrräder.
Rechts von uns liegt die Bayerische Staatsbibliothek, sie ist eine der größten und bedeutendsten Gedächtnisinstitutionen Europas. Ihr Medienbestand beläuft sich auf rund 37 Millionen Medien. Darunter, wie wir jetzt auch wissen, die detaillierte Streckenbeschreibung des Olympischen Marathons von 1972.
Über einen Kilometer verläuft die Ludwigstraße geradlinig in nordöstlicher Richtung und endet am Siegestor, das wir schon ganz nahe vor uns ausmachen können, aber letztendlich doch nicht ganz erreichen. Etwa 200 Meter vorher biegen wir vor der Ludwig-Maximilians-Universität nach rechts ab und kurz darauf in den Englischen Garten ein. |