Einmal
Pacemaker in Berlin
Am Freitag stehe ich mit Mario auf dem Rollfeld
des Münchener Airport und schau mir so unseren braunen Flieger
an, aus weiterer Entfernung sieht er fast aus, wie in Tarn-Lackierung,
mir kommt’s fast so vor, als wenn wir zu einem Einsatz in
eine Krisenregion geschickt würden.
Aber gerade mal 55 Minuten dauert der Flug, das sollte doch mit
Berlin schon passen. Erst auf dem Flugplatz Oberschönefeld,
als ich noch einmal ein paar Fotos von dieser ungewöhnlichen
Farbgebung mache, klärt mich ein Fluglotse auf – das
ist der Berliner Bär. Ja, jetzt wo ich ihn mir genau ansehe
kann ich ihn auch erkennen. BERLIN. BE PART OF IT, steht noch drauf,
dem werden wir sicher in den nächsten Tagen nachkommen.
In der Gepäckausgabehalle fällt mir auf einem Tisch vor
der Toilette schon ein Programmheft für den Berlin-Marathon
auf, nachdem ich mein Geschäft abgewickelt habe und wieder
rauskomme, liegt es immer noch da. Ich sehe es mir mal genauer an
und siehe da, da hat doch tatsächlich einer seine kompletten
Startunterlagen hier abgelegt und liegengelassen. Na, der wird ins
Schwitzen kommen vor der Marathonmesse. Ich beschließe alles
an mich zu nehmen und an der Startunterlagenausgabe abzugeben, wohin
ja auch unser erster Weg führt.
Marathon Messe
Der Standort der Messe ist heuer auch ganz neu, von den Berliner
ICC Messehallen ist man ins ehemalige Kabelwerk Siemensstadt umgezogen.
Der Weg dorthin ist schon mal gar nicht so einfach per Öffentlicher
Verkehrsmittel zu erreichen, von der U-Bahn-Haltestelle sind es
noch locker 15 Minuten Fußweg. Heute ist schönes Wetter,
da ist das kein Problem, aber wenn’s hier mal regnen sollte,
werden einige ganz schön fluchen. Zwar soll es auch einen kostenlosen
Shuttle-Service per Bus geben, davon ist aber nichts zu sehen und
wie der diese Menschenmassen bewältigen will, kann ich mir
auch schlecht vorstellen.
Vor den Toren und in der großen alten Fabrikhalle des ehemaligen
Kabelwerk’s ist für einen Freitagsbesuch schon jede Menge
los. Wo geht’s jetzt zu den Startunterlagen? Gar nicht so
einfach, sich durch die dichtgedrängten Verkaufsstände
und vielen Menschen zurechtzufinden. Erstmal müssen wir komplett
durch die große Halle durch, die Beschilderung ist nicht optimal,
dann werden wir noch durch die Cateringhalle gelotst, danach wieder
ins Freie, bis wir endlich die Halle in der hintersten Ecke des
Geländes erreichen, wo wir unsere Startnummern in Empfang nehmen
können.
Das geht aber sehr schnell vonstatten, meine gefunden Startunterlagen
werde ich aber nicht los, ich soll es mal am Trouble Desk probieren,
sagt mir die Dame von der Startnummernausgabe. Das ist unten am
Eingang, mit einer 50 Meter langen Warteschlange. Darauf habe ich
wirklich keinen großen Bock, unter einer Stunde anstehen ist
da sicher nichts drin, ich will ja nur was Gutes tun. Ich frage
mal jemand vom Personal, der schickt mich zurück in die Haupthalle
wo die Sport- und Gesundheitsmesse Berlin Vital untergebracht ist,
dort soll es eine Messeleitung geben.
In der Halle ist auch noch der gesamte Merchandising-Bereich vom
Berlin-Ausrüster adidas untergebracht. Die komplette Berlin-Kollektion
gibt es in allen Farben, Formen & Größen. Margot
hat sich das Eventshirt gleich mit der Anmeldung mitbestellt, das
wird dann aber leider nur in Unisex ausgeliefert und hängt
bei ihr dran wie ein Sack. Das könnte man von Veranstalterseite
wirklich besser lösen.
Ich suche und suche, kann aber nichts entdecken, zwischendrin fallen
aber dafür ein paar neue Laufschuhe für mich ab und Klaus
Duwe von marathon4you.de treffe ich auch. Er erzählt uns, dass
es für ihn mit einem Einsatz heuer nichts mehr wird. Soviel
laufen macht hungrig, daher besuchen wir auch noch die Pasta Lounge.
Hier läuft auch nicht alles ganz rund, ausgerechnet als wir
an der Reihe sind, gehen die Nudeln aus. Einige Minuten dauert es
schon, bis wieder Nachschub da ist. Mittlerer weile ist es schon
20 Uhr, mir reicht’s, aber leider bin ich das gefundene Starterpaket
immer noch nicht los geworden. Ich drücke es jetzt am Ausgang
einfach einem Ordner in die Hände, erkläre ihm alles und
beauftrage ihn, es an die richtige Stelle weiterzuleiten. So g’scheit
hätt‘ ich ja gleich sein können.
Frühstückslauf
Gerade richtig zum Einlaufen ist der Frühstückslauf
mit rund 11.000 Teilnehmern am Samstagvormittag um 9.30 Uhr. Nach
dem Vorbild des Freundschaftslaufes beim New York City Marathon
wurde diese Veranstaltung 1983 in Berlin eingeführt und ist
seither fester Bestandteil des Marathon-Programms und auch schon
zur Tradition geworden. Ich habe mir extra ein bayerische Lederhose
und diverse Accessoires mitgebracht um noch mehr Spaß zu haben,
getreu dem amerikanischen Vorbild. Dort ist der Lauf nur für
die Ausländer gedacht und viele laufen dort auch in ihren Landesfarben
und -trachten, hier in Preußen gilt das für uns Bayern
ja eigentlich auch.
Magic läuft im Schottenoutfit, inklusive Schottenrock und auch
Maddinsche hat seine Lederhose dabei. Bald sind wir umringt von
Japanischen Geishas, Koreanern und vielen anderen, alle sind ganz
scharf auf uns. Mehrere Minuten stehen wir für diverse Fototermine
bereit, jeder will sich mal mit uns ablichten lassen. Wir haben
einen Riesen Gaudi dabei. Viele andere haben sich auch eine originelle
Maskerade angelegt und alle sind gut gelaunt. Nebenbei kann ich
mir auch den Sightseeingausflug ins Stadion sparen.
Für den Lauf vom Schloß Charlottenburg bis ins Berliner
Olympiastadion gibt uns Race-Direktor Mark Milde den Startschuss.
"Janz langsam" ist das Motto, darum werden die folgenden
fünf Kilometer ohne Wettkampfcharakter im gemütlichen
Tempo gelaufen. Meine Uhr zeigt einen Schnitt zwischen 6:30 –
7:30 Minuten auf den Kilometer an. Auf der blauen Laufbahn des Olympiastadions
endet der Lauf, danach erhalten wir noch ein Frühstück,
das Titelsponsor real,- bereitgestellt hat. Neben jeweils 10.000
Äpfeln, Bananen und Joghurtdrinks gab es unter anderem 7.000
Quark-Rosinen-Brötchen sowie 8.000 Becher Kaffee und noch einige
andere Leckereien. Natürlich gibt’s auch "Berliner"
oder wie wir Bayern sagen würden, "an Krapfen".
Inline-Skating Marathon
Am Nachmittag will mir auch noch die Skater anschauen, Mario und
ich suchen einen Platz in der Nähe des KaDeWe bei km 36 aus.
Den gleichen Standort hat sich auch die Schwedische Sambagruppe
"Samba St. Olof" ausgesucht. In Schweden treten sie bei
mehreren Marathonveranstaltungen auf und einmal im Jahr reisen sie
zu einem Auslandsmarathon und ziehen dort ihre Show ab. Heuer war
mal Berlin dran.
Die Straße ist abgesperrt, aber es tut sich auf der Laufstrecke
noch nichts, so haben wir Zeit uns mit den Mädels von der Sambaband
zu beschäftigen. Mit ihren Trommlern fangen sie auch schon
vor dem Eintreffen der ersten Inliner an Ramba Zamba zu machen.
Immer mehr Leute versammeln sich auf dem Platz, bald ist die, eigentlich
von der Polizei abgesperrte Straße zur Hälfte von Zuschauern
belegt, alle haben ihre Aufmerksamkeit auf die Showband gerichtet.
Man hat fast den Eindruck, keiner interessiert sich mehr für
die eigentliche Hauptattraktion, den Skating-Wettbewerb.
Dann kommen aber doch die ersten vorausfahrenden Fahrzeuge des Veranstalters
und die Polizei und Ordner verscheuchen uns von der Straße.
Wenig später brettern schon die ersten Inline-Skater im Affentempo
durch. Genau eine Stunde benötigen die schnellsten für
die 42 Kilometer, da kann man sich leicht ausrechnen, was die für
einen "Zahn" drauf haben.
Pacer Magic
Zum Marathon ist unser Team TOMJ mit 10 Mann am Start.
Mario und Gerhard werden sich jagen bis zum Umfallen, denn Gerhard
benötigt noch die Boston-Quali, die Mario schon seit dem Frühjahr
mit 3:14 im Sack hat. Der Ehrgeiz bei beiden ist groß und
Gerhard wird bestimmt versuchen auch diese Zeit zu unterbieten.
Mario könnte es eigentlich lockerer angehen, aber er mag es
nicht so gerne, wenn sein "Chef" schneller ist wie er.
Maddinsche will versuchen die 3:30 zu unterbieten.
Dann haben wir mit Petra auch noch eine Debütantin dabei, sie
möchte einmal erleben, wie sich die letzten Kilometer auf der
Marathonstrecke anfühlen. Leider muss sie mit Leistenbruch
antreten, aber ihr Arzt sagt: was kaputt ist, kann man nicht mehr
kaputt machen. Klingt logisch, sie hat seinen Segen. Sie und Margot
haben ihren eigenen Privat-Pacer engagiert, Manfred vom Berlin-Forum.
Der Rest vom Team wird mal schauen was geht.
Zum sechsten Mal in Folge ist Magic als Sub 4:00 Pacer hier in Berlin
dabei und zuvor führte er noch einmal die 5-Stunden Läufer
ins Ziel. Ich will mich heute mal an seine Fersen heften und schauen
wie sich ein Marathon so aus seiner Sicht entwickelt und wen man
so alles dabei begegnet.
Ein bisschen was gibt’s noch von ihm zu erzählen. Im
Frühjahr 1999 zeigte die Waage bei ihm 104 kg an. Irgendwas
musste geschehen, als Abnehm-Motivation schloss er darum mit Freunden
eine Wette ab. Auf radikale Weise schaffte er es, u.a. mit Laufen,
innerhalb eines halben Jahres auf 68 kg abzunehmen. Ziemlich bescheuert
und bestimmt nicht ganz gesund, wie er heute meint. Seine ersten
Laufeinheiten bestanden aus abwechselnd 1 km Laufen und 1 km Gehen,
so kamen 6 Kilometer in einer Stunde zusammen.
Sein erstes Rennen war der Silvesterlauf 1999 über 10 km. Der
erste Marathon folgte dann im Jahr 2000 in Berlin, seitdem ist er
jedes Jahr hier. Heute steht er zum 53. Mal an einem Marathonstart,
inklusive Supermarathon am Rennsteig und den 100 km von Biel. Seine
Marathonbestzeit steht seit Februar 2008 auf 2:58. Zusätzlich
zu Berlin ist er noch in Freiburg – auch bereits seit mehreren
Jahren – als Pacer im Einsatz.
Alle die sich ihm bisher angeschlossen haben, sind auch –
sofern sie ihm folgen konnten – genau in der anvisierten Zeit
ins Ziel gekommen. Gelegentlich macht er auch für uns mal den
Privat Pacer. Bei uns in Augsburg leitet er zudem Marathonseminare
für Einsteiger, zuerst mit Theoriestunden, danach betreut und
begleitet er über mehrere Wochen seine Teilnehmer auch bei
den "langen Läufen" in der Praxis. Dank seiner guten
Betreuung, haben so schon viele ihren Marathon-Einstand erfolgreich
hinter sich gebracht.
Marathon
Genau zwischen Startbereich F und G an der zweiten Startwelle ist
Magic platziert, mit seinem großen orangefarbigen Ballon ist
er nicht zu verfehlen. Das Gedränge hinter ihm ist groß,
bereits 30 Minuten vor dem Start werden wohl viele dabei sein, die
sich ihm anschließen wollen. Einer davon ist Friedhelm, bereits
vor zwei Jahren hat er sich Magic angeschlossen und konnte dadurch
zum ersten Mal die 4 Stunden knacken, heute will er es wieder versuchen.
Peter ist mit mir unterwegs und Jan kommt auch noch hinzu, wie am
Vortag vereinbart. Den einzigen den wir überhaupt noch nicht
getroffen haben ist Speedy, er und Siggi sind weiter außerhalb
in Berlin privat untergebracht, aber um den brauchen wir uns auch
keine zu Sorgen machen. Ja, obwohl ...wenn ich da an die Vorwoche
in Ulm denke, aber ich glaube er wird diesesmal die Startzeit ausgiebig
studiert haben!
Dann werden unzählige gelbe Luftballons losgelassen. "Goldelse"
auf der 50 Meter hohen Siegessäule ist fast nicht mehr zu erkennen.
Um Punkt 9 Uhr schickt uns Fußball-Bundestrainer Jogi Löw
gemeinsam mit Berlins Regierendem Bürgermeister Klaus Wowereit
auf die Reise. Bis zur Startlinie benötigen wir genau 15 Minuten,
dann geht es auch für uns richtig los. Dicht gedrängt
werden die ersten Kilometer absolviert, immer wieder laufen wir
auf deutlich langsamerer Läufer auf, bei der Dichte des Feldes
ist wirklich schwierig auszuweichen, aber Unverbesserliche gibt
es leider immer wieder.
Nach 5,5 km erreichen wir die JVA Moabit, ich schau mir mal so an
wie es hinter Magic aussieht. Eine dichte Läufertraube folgt
ihm, wie viele hundert das sein werden, die hier dem Ballon folgen,
kann man bei der unglaublichen Menge überhaupt nicht abschätzen.
Ich habe es schon aufgeben, laufe lieber einige Meter vor der Gruppe,
das ist wesentlich angenehmer. Heidrun, die auch mit Martin angelaufen
ist, ist es genauso zu anstrengend geworden, sie macht’s wie
ich.
Einen Kilometer weiter passieren wir Bundeskanzleramt, Reichstag
und Spree – mitten durch’s Regierungsviertel führt
der Weg. Der Abschnitt ist von Zuschauern natürlich gut besucht,
das gibt auch schöne Fotomotive. An der Konrad-Adenauer geht
es auch mal spürbar etwas bergauf, zu dem Zeitpunkt meistern
wir das natürlich alle locker.
Die nächsten Kilometer sind die Zuschauer dann doch wieder
deutlich ruhiger. Aber bei km 12 geht’s unter einer Brücke
durch, hier ist wieder richtig was los und eine tolle Trommlergruppe
gibt ihr Bestes. Ich bin doch jetzt ein paar hundert Meter vor Magic’s
Gruppe, aber ein paar Fotostopps lassen den Vorsprung schnell wieder
schmelzen, meistens laufe ich die ersten Kilometer mit Peter, er
möchte auch 4 Stunden unterbieten. Als wir wieder mal auflaufen
fragt ihn Magic, wie es läuft, da meint er, dass die Wade schon
etwas zwickt. Ob das was wird?
Immer noch ist das ganze Feld hinter dem Zugläufer total dicht
zusammen, aber auch nach vorne gibt es wenige Lücken. Zwischendrin
laufe ich auch mal Seite an Seite oder genau hinter Magic. Aber
das kann ich nicht lange machen, man verliert wahnsinnig schnell
den Anschluss, wenn man sich nicht gleich wieder ranhängt.
Ich bevorzuge lieber die Außenbahn am Gehwegrand. Aber das
ist auch nicht das Gelbe vom Ei, weil sich da auch die langsameren
Läufer bewegen. Bei jedem Fotostopp verliere ich ca. 50 –
80 Meter, um dann zur Gruppe wieder aufzuschließen, gibt es
oft nur einen Weg um nach vorne zu kommen und der ist auf den Gehweg
hinter den Zuschauern vorbei.
Wir sind gerade bei km 19 als von einem Zuschauer der Schrei durchdringt:
"Haile ist durch". Ich sehe auf meine Uhr und die zeigt
gerade 11.04 Uhr an, das bedeutet, er könnte einen neuen Weltrekord
geschafft haben, ist ja auch kein Wunder, so wie wir ihn vor uns
hertreiben.
Halbzeit
Die Halbmarathonmatten passieren wir in genau 1:59:30. Ja, der Magic
läuft schon wie ein Schweizer Uhrwerk. Das Ganze ist hier beileibe
keine leichte Aufgabe, immer wieder muss er sich den überfüllten
Weg durch langsam zurückfallende Läufer kämpfen und
sich auch mal verbal den Weg frei machen. Sein beliebtester Spruch
ist: "Lassen sie mich durch, ich bin der Arzt!".
Was tut sich sonst noch im Verfolgerfeld? Ich kann überhaupt
keine Veränderungen feststellen, weder im Feld vor der Gruppe
noch dahinter, es ist einfach Proppenvoll, aber vielleicht tut sich
ja noch was, wir haben ja erst die Hälfte.
Und dann tut sich wirklich was bei km 23, Magic verliert Luft aus
seinem Luftpolster im Schuh. Es geht nicht mehr weiter, er kann
das Tempo einfach nicht mehr halten. Es geht nix mehr! Ich muss
jetzt die Ballons übernehmen und die Läufer weiterführen...
"Nein, nein, nur a Schmarrn von mir", aber ich übernehme
wirklich die Ballons und ich bin so zum ersten Mal Pacemaker und
das gleich in Berlin. Von nun an kann ich mich ja eigentlich mit
dem Titel schmücken, unsere Fußballnationalspieler bekommen
ja auch ein Länderspiel in die Statistik gutgeschrieben wenn
sie in der 89. Minute noch eingewechselt werden.
Schon bei km 15 hat er mir gesagt, dass er bei km 24 einen Treffpunkt
mit einigen Forums-Mitgliedern hat und ob ich mal einige Meter übernehmen
kann. Mich hat das ab dem Zeitpunkt richtig motiviert und hab mich
auch sehr darauf gefreut. Jetzt kann ich diesem verantwortungsvollen
Job mal selbst nachgehen.
Gleich am Anfang reißt mir die Leine eines Ballons –
es sind nämlich zwei – fast die Brille vom Kopf, da muss
ich wirklich aufpassen. Ich glaube alle 20 – 30 Sekunden schaue
ich auf meine Laufuhr, die mir das Lauftempo anzeigt. Ich will ja
schließlich nicht die Zeit versauen. Dass das nicht so einfach
ist, kann ich am eigenen Leib erfahren. Man muss sich den Weg durch
diese unglaubliche Menge auch mal freikämpfen. Gut zwei Kilometer
dauert mein Einsatz, dann kann ich die Luftballons wieder abgeben.
Das hat mir jetzt schon Spaß gemacht, aber über eine
komplette Distanz wäre mir das in Berlin viel zu anstrengend.
Eine ganz andere Art um in der Gruppe mithalten zu können,
verbringt Helmut, er läuft hier seinen ersten Marathon und
um bis ins Ziel locker zu bleiben, macht er immer wieder mal diverse
Einlagen, wie einen Hopser- oder Rückwärtslauf.
Bis zum Wilden Eber bei km 28 geht es ganz leicht bergauf aber dafür
lassen die Leute dort auch wirklich die Sau raus. Hier ist wirklich
eine der Stimmungshochburgen der gesamten Strecke. Ein weiterer
Mitläufer spricht Magic bei km 30 an. "Wie machst du das
nur und welche Hilfsmittel benutzt du denn?". Von Anfang an,
hat er jeden Kilometer kontrolliert und mitgestoppt, die Abweichungen
sind so minimal, dass er es kaum glauben kann. Bei km 35 hört
er dann doch auf zum kontrollieren und glaubt endgültig an
ihn.
Was kann ich noch interessantes berichten. Nichts! Das Feld ist
noch immer genauso voll, an den V-Stationen ist jedes Mal durchkämpfen
angesagt, es werden einfach nicht weniger und das Gedränge
im Feld wird kaum lockerer.
Peter kann ca. ab km 30 die Pace nicht mehr ganz mitgehen und verliert
den Anschluß. Mir persönlich läuft es jetzt auch
nicht mehr so locker von den Beinen, mehrere Wochen Trainingsausfall
wegen einer Wadenverhärtung machen sich schwer bemerkbar, aber
ich muss ja durchhalten, sonst fehlt mir der Abschluss des Berichtes.
Also geht’s immer weiter, aber fotografieren habe ich aus
Kräftemangel, ab dem Wilden Eber eingestellt. So fällt
es mir auch nicht mehr so leicht die tolle Stimmung am Kurfürstendamm
und Potsdamer Platz aufzunehmen.
Auf dem Ku’damm sehe ich dann ein Stück vor mir Jan,
den hatte ich auch schon ziemlich früh aus den Augen verloren.
Ich arbeite mich mal an in ran, um ein paar Worte zu wechseln. Ab
der nächsten Getränkestation sehe ich ihn aber wieder
nimmer.
Seit einigen Kilometern ist Magic auf "die Unglaublichen aufgelaufen".
Das ist eine Gruppe von Mädels in rot-schwarzen Kostümen
mit einer Augenbinde wie Zorro, am Start waren sie noch knapp hinter
uns, darum haben sie zeitlich noch Luft, jetzt hängen sie sich
aber lieber doch an den Tempomacher ran um unter vier Stunden zu
bleiben.
Und dann erreichen wir "Unter den Linden", in der
Ferne kann man schon das Brandenburger Tor ansatzweise sehen. Magic
schickt jetzt alle die noch gut aussehen nach vorne, damit sie das
Erlebnis eines Zieleinlaufes für sich alleine genießen
können. Der Weg vom Brandenburger Tor ist dann aber doch noch
weiter als man sich erhofft, aber alle die es bis hierher geschafft
haben, kommen Punktgenau in 3:59 ins Ziel. Magic hat es wie immer,
mit einer halben Minute Puffer geschafft. Für mich gilt das
gleiche.
Hinter der Ziellinie wird er gleich von Heidrun empfangen, der es
hinter Magic schon von Anfang an zu anstrengend war und sich nach
vorne etwas abgesetzt hat. Sie hat es trotz eines Sturzes rechtzeitig
unter Sub 4 geschafft und bedankt sich bei Magic. In den letzten
Jahren war nach Aussage von Magic doch deutlich mehr Bewegung in
der Pacertruppe und zum Ende des Marathons auch wesentlich weniger
Läufer mit ihm auf der Strecke. Jan kommt eine halbe Minute
nach uns ins Ziel, um ein paar Sekunden hat er es nicht unter 4
Stunden geschafft.
Nach der Ziellinie gibt es erstmal einen Stau, der sich über
einige Minuten hinzieht. Bis man seine Beine ins Gras legen kann,
vergehen so noch mal viele Minuten. Hat man erstmal die Kleiderabgabe
erreicht, kann man sich endlich der Erholung und Regeneration widmen.
Mario hat es auch geschafft, er konnte mit 3:11 wieder eine neue
Bestzeit aufstellen und Gerhard mit 3:13 in Schach halten, der war
aber auch mehr als zufrieden, seine alte Bestmarke lag über
10 Minuten schlechter und ist jetzt sicher für Boston qualifiziert.
Maddinsche schrammte mit 3:32 knapp an seiner Zielvorgabe vorbei,
aber die neue Bestzeit entschädigte dafür locker. Peter
hat noch ein paar Minuten auf Magic verloren, aber das ist auch
kein Problem.
Die Leiste unserer Ersttäterin Petra hielt auch problemlos
durch und sie ist jetzt auch Marathon Siegerin.
Trotz...
Herzkammerflimmern, Borreliose, Cellulitis, Schienbeinkantenentzündung,
Hungerast, Blasenentzündung, Migräne, Grippe, Fieber,
Bronchitis, Blasen, Wolf, Muskelkater, Ermüdungsfraktur, Achillessehne,
Heuschnupfen, Seitenstechen, Leistenbruch... das sind einige ihrer
Wehwehchen aus der Vorbereitungszeit, wie man auf ihrem, von Margot
ausgehändigten T-Shirt lesen kann.
Margot ist anfangs zusammen mit Petra und ihren Privat-Pacer Manfred
gelaufen, irgendwann wollte sie dann aber mal ihr eigenes Tempo
durchsetzen und hat sich zurückfallen lassen. Das hat bei Petra
einige Irritationen hinterlassen, sie wartete sogar nochmal auf
sie.
Insgesamt wurden diesmal 35.783 Läufer und Läuferinnen
im Ziel registriert, 3.000 mehr als im letzten Jahr. Da braucht
man sich nicht wundern, wenn kein Platz mehr auf der Laufstrecke
ist.
After Race
Zu den ganz "verrückten Hunden" gehört Mario,
nach dem Marathon hatte er um 17 Uhr noch einen Termin beim "House
Running". Vom zweithöchsten Gebäude Berlins, dem
150 Meter Hohen Park Inn am Alexanderplatz, hat er noch einen Lauf
senkrecht hinab in die Tiefe zu absolvieren. "Face Down"
nennt sich das. An der Außenseite der Spiegelflächenfassade
seilt er sich nach unten, natürlich im Finisher-Shirt. Kein
Problem für ihn, meint er nur lapidar.
Von Haile gibt es auch noch was zu erzählen. Ein Freund von
Magic war zufällig im selben Hotel wie er untergebracht, darum
wollte Magic unbedingt ein Autogramm haben. Am Nachmittag nach dem
Marathon hat er ihn abgepasst, alles kein Problem für Haile,
der ist nicht nur im Fernsehen total locker, aber was jetzt alle
Normalos wie mich freut, auch er lief nach dem Marathon nicht mehr
rund, beim Gehen unterschied er sich auch kaum noch vom Leidgeprüften
Hobbyläufer.
Am Abend sind wir natürlich noch auf unserer traditionellen
privaten After-Race-Party. Wir haben uns den Zillemarkt, ein uriges,
Berliner Traditionsrestaurant ausgesucht. Eisbein, Kassler, Sülze,
Currywurst, Fritten und Bratkartoffeln stehen heute mal anstelle
von Pasta auf dem Speiseplan. Und auch das schmeckt allen vorzüglich.
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