1993 – Vor zwanzig Jahren waren Gabi und ich auf Urlaubsfahrt in der Schweiz unterwegs, begeistert von den Schweizer Bergen und Seen landeten wir im Bödeli, dem Gebiet zwischen Thuner- und Brienzersee. Im Tourismusbüro von Interlaken fiel mir das Jungfrau Top Magazin in die Hände in welchem die Highlights der Jungfrau Region vorgestellt werden. Auf Seite 55 befindet sich die Ausschreibung für den 1. Jungfrau Marathon am 25. September 1993. Viersprachig versteht sich: Deutsch, Englisch, Französisch und …Japanisch. Aufräumarbeiten im privaten Arbeitszimmer beförderten die Broschüre im letzten Jahr wieder ans Tageslicht. Hat doch auch immer was Gutes, so eine Aufräum-Aktion. Mein Appetit wurde wieder geweckt und der Termin noch frei.
Seiner Zeit waren mir 10 km-Rennen lange genug, so war dieser verrückte Lauf mit über 1.800 Höhenmeter hinauf auf eine Höhe von fast 2.200 m, doch des Guten eindeutig zu viel. Zwei Wochen später fand die Premiere statt, natürlich ohne mich. Dass es eine Erfolgsgeschichte werden wird, war noch nicht abzusehen, aber vom Initiator Heinz Schild eindeutig erwünscht und geplant. Widrig waren die Umstände der Erstaustragung. Dauerregen und Schneefall sorgten dafür dass die weit über 1.500 Teilnehmer aus 19 Nationen nur die Ersatzstrecke laufen konnten, welche nicht über die berühmte Eiger-Moräne führte.
20 Jahre später, sind was das Wetter betrifft, keine Störungen zu erwarten. Ausschließlich blau präsentiert sich der Himmel im Berner Oberland mit noch sommerlichen Temperaturen. Interlaken und der komplette Veranstaltungsbereich an der Höhematte haben sich prächtig herausgeputzt. Die Aufbauarbeiten der riesigen Event-Arena samt dem markanten Kuppeldach des Schweizer Tourneetheaters „DAS ZELT“ haben mehrere Tage in Anspruch genommen. Samstag und Sonntag werden DJ Ötzi und weitere Gäste hier die Stimmung noch weiter anheizen.
„Langsam chribelets bi mir“, lässt sich eine meiner zahlreichen Nachbarinnen entlocken als die Schweizer Nationalhymne kurz vor dem Start abgespielt wird. Bei mir ist die Nervosität schon am Abklingen, macht sich immer mit Appetitlosigkeit beim Frühstück breit. Zum Jubiläum gibt es heuer wieder einen Doppel-Marathon. Am Samstag starten alle Mädels mit uns alten Säcken ab Altersklasse 50. In dem Fall freue ich mich dass ich dieser AK schon angehöre. Sonntags sind dann die restlichen Männer am Start und dann unter sich, bis auf einige wenige Doppelstarterinnen.
In die Doppelausgabe integriert ist auch die Austragung der 9. Berglauf-WM über die Langdistanz, die zum zweiten Mal nach Interlaken vergeben wurde. Wie beim großen Hauptfeld kämpfen die Elite der Damen am Samstag und die der Männer am Sonntag um Titelehren. Preisgeld gibt’s übrigens hierfür keines, nur für den regulären Marathon. Je 5 Damen und Männer konnte jedes Land zu den Titelkämpfen entsenden. Für die Durch-führung des Jungfrau Marathons werden sage und schreibe 2.700 Helfer/innen benötigt.
1997 – Bereits nach fünf Jahren erwies sich der Jungfrau Marathon als die große Zugnummer. Weit über 3.500 wollten dabei sein. Zugelassen wurden 2.900 Sportler aus mittlerweile 38 Nationen. Von einem amerikanischen Marathon-Reiseführer wurde er in dem Jahr zum schönsten Marathon der Welt gekürt. Mir war so eine Distanz trotzdem immer noch viel zu lang.
Eine erste Schleife führt uns durch Interlaken, dichtgedrängt stehen die Zuschauer am Straßenrand und machen einen Höllenlärm. Nach drei Kilometern passieren wir wieder den Startbogen. Unglaublich wie das Feld durch die Straßen prügelt. Mir ist das Tempo eigentlich viel zu hoch, aber werde förmlich mitgerissen von der Euphorie.
Vor drei Jahren, hier am Start, hab ich mir vorab viele Gedanken über die Taktik gemacht. Die ist damals nicht aufgegangen, weil Mario, die Schweinebacke, mich und sich, mit seiner immer wieder praktizierten Harakiri-Taktik (schnell anlaufen und hinten wird’s der liebe Gott schon richten) in die vorzeitige Erschöpfung führte. Mario ist heuer auch wieder am Start, ist aber ein paar Jahre jünger als ich und darf damit erst morgen ran. So kann ich mir mein Tempo selber einteilen. Oder vielmehr könnte, wenn ich es denn schaffe mich dem Sog des Feldes zu entziehen.
Gestern habe ich mir noch eine Tempotabelle mit Richtzeit 5:30h ausdrucken lassen und nach der will ich mir heute auch den Lauf einteilen. In Böningen (km7) streifen wir das Ufer des Brienzersee. Für musikalische Stimmung sorgen eine Bläsergruppe und wenig später die Herren mit ihren gewaltig scheppernden Treicheln aus gehämmertem Blech. Nicht zu verwechseln mit Glocken die gegossen werden. Kurz nach Wilderswil sind 10 km durch, Zeit mein Tempo auf dem Armband zu kontrollieren. 8 Minuten bin ich nach meiner Zeitentabelle bereits zu schnell, ich muss mich zügeln, so schnell laufe ich mittlerweile nicht mal mehr Flachmarathons an.
2002 – Zum 10-jährigen Jubiläum ließ man sich was Besonders einfallen. Erstmalig wurden zwei Marathons an zwei aufeinanderfolgenden Tagen ausgetragen, so konnten insgesamt über 5.900 Läufer/innen das Ziel auf der Kleinen Scheidegg erreichen. Mich hatte das Marathonfieber mittlerweile auch erfasst und so bereitete ich mich auf mein Langstrecken-Debüt vor.
Spürbar leicht ansteigend wird es nach Gsteigwiler, nach zwei wunderschönen alten Holzbrücken verlassen wir auch die geteerten Straßen und wechseln auf schmale Kieswege und Pfade über. Bis Lauterbrunnen kommen so fast 350 Höhenmeter zusammen. Mal rechts, mal links von uns werden wir begleitet von der Lütschine. In Zweilütschinen (km 15) ist der Zusammenfluß der Schwarzen Lütschine vom Grindelwaldgletscher und der Weissen Lütschine aus dem Lauterbrunnental kommend. In vergangenen Jahrhunderten sorgten die Flüsse immer wieder für große Überschwemmungen unten im Bödeli.
Die steigende Strecke und die Naturwege sorgen dafür dass sich mein Tempo automatisch etwas verringert. In Lauterbrunnen (km 20) habe ich noch 4 Minuten plus auf meine Sollzeit. Na also so langsam passt mein Tempo. Beim Ortsdurchlauf durch Lauterbrunnen steppt wie immer der Bär, viele Begleiter nehmen hier die Gelegenheit war, beim Zugwechsel in die Jungfraubahn einen Abstecher vom Bahnhof an die Laufstrecke zu machen und noch zusätzlich für Stimmung zu sorgen.
Nicht nur der Jungfrau Marathon hat Grund zu feiern, auch die Jungfraubahn, sie feiert heuer ihr 100-Jahr Jubiläum. Im Februar 1912 hatten italienische Minenarbeiter mit einer gewaltigen Ladung Dynamit nach fast 16 Jahren Bauzeit den Durchschlag auf dem Jungfraujoch geschafft. Sie vollendeten den Bau des Eisenbahntunnels, der durch Eiger und Mönch zur höchsten Bahnstation Europas führt. Begonnen hat man mit den Feierlichkeiten bereits im Januar. Der Lichtkünstler Gerry Hofstetter projizierte an mehreren Tagen im Januar und Februar die Schweizer Nationalflagge auf die vereiste Nordflanke unterhalb des Jungfraugipfels. Teilweise bis in den Schwarzwald konnte das Schweizer Kreuz gesehen werden.
2003 – Mit 2:49:02 pulverisierte Jonathon Wyatt den Streckenrekord, der bis heute noch seine Gültigkeit hat. Erstmals ließ man 4000 Starter zu, auch diese Marke gilt bis heute, mehr können nicht mehr vom Berg transportiert werden. Ein paar Monate vorher war es auch für mich so weit, ich feierte mein Debüt auf der Marathonstrecke. Aber muss man denn einen Marathon unbedingt auch auf die Berge laufen, fragte ich mich damals.
Etwas außerhalb von Lauterbrunnen ist die Halbmarathon-Matte erreicht. Eine kleine Schleife führt uns noch tiefer ins Tal der Wasserfälle. 72 stiebende Wasserfälle gibt es im Lauterbrunnental. Die bekanntesten sind der Staubbachfall mit 300 m Falltiefe und die Trümmelbachfälle. Eine unterirdische Standseilbahn, etliche Tunnels und Brücken erschließen die 10 Gletscherwasserfälle im Berginnern. Wer knapp in der Zeit liegt, für den bietet sich das fast 2 km lange Gefälle des Rückwegs aus dem Tal zum Tempo machen an.
Zurück in Lauterbrunnen ist Schluss mit gepflegtem Laufen, ab km 26 geht’s rein in die 3 km lange Wand die uns in 26 Serpentinen nach Wengen führt und mich meist in den Gehschritt zwingt. Nicht umsonst werden ab hier bis zur Moräne die Kilometerschilder in 250-Meter-Schritten angezeigt. Gespannt bin ich wie meine Marschtabelle die steilen Berganstiege einrechnet und ob dieses Tempo auch umsetzbar ist. Passenderweise läuft an einer Alm „Another Brick In The Wall“ von Pink Floyd in Dauerschleife. Vor drei Jahren kam mir der Abschnitt aber deutlich steiler und länger vor.
2009 – Zum dritten Mal ging Jonathon Wyatt an den Start und war wieder nicht zu schlagen. Das Kontingent von 4.000 Startplätzen war wie immer frühzeitig ausgebucht. Endlich bin auch ich bereit die Jungfrau zu bezwingen. Mit wenig Bergerfahrung muss ich nach hohem Anfangstempo beim Anstieg noch Tribut zollen.
Der Durchlauf durch das mit Fahnen und Wimpeln geschmückt Wengen gleicht einem Triumphzug von Gladiatoren. Hunderte, was sag ich, tausende von Menschen stehen an der Seite und jubeln uns zu und dazu spielt die Musi. Man muss es einfach erlebt haben. Überrascht bin ich, dass ich an der 30km-Marke immer noch optimal in der Zeit liege. Meine Plusminuten vom Tal herauf konnte ich noch behalten. Wer auch immer diese Zeitentabellen programmiert, hat bisher gute Arbeit geleistet und das Steilstück optimal berücksichtigt. 830 Höhenmeter sind bereits erklettert, aber noch liegen 1000 vor uns, die werden uns aber versüßt. Am Hanneggschuss überqueren wir die Lauberhornabfahrt von Wengen und langsam öffnet sich vor uns der Blick auf die gewaltige Spitze der Jungfrau.
Über die Wengeralp geht es zur berüchtigten Cut-Off-Stelle an der Ski-Station Wixi. Wer um 14.35 Uhr nicht durch ist wird gnadenlos aus dem Rennen genommen und verpasst damit den schönsten Abschnitt des gesamten Kurses. Die Stimmung an der Strecke kann noch so großartig sein, sie ist nichts gegen das Panorama des mächtigen Dreigestirns Eiger, Mönch und Jungfrau mit seinen schroffen Felsen und Eiswänden. Über der Baumgrenze herrscht hier eine fast andächtige Stille. Plötzlich habe ich keine Lust mehr mich meinem Zeitdiktat am Handgelenk zu unterwerfen. Ich will diesen Abschnitt nur noch genießen und verzichte auf jegliche Tempoeinhaltung.
Untermalt wird diese meditative Ruhe noch von den einige hundert Meter entfernten Klängen der Alphornbläser. Ich bekomme eine Gänsehaut, der Abschnitt ist einzigartig. Diesen Traum genau zu beschreiben ist eigentlich nur schwer möglich, schaut euch die Bilder an, die vermitteln den besseren Eindruck. Bis und über die Eiger-Moräne kommt man nur im Gänsemarsch voran, aber wen kümmert’s? Doch, einen stört‘s. Trotz langsamsten Gehtempos handle ich mir noch einen dicken Rüffel ein. Einem Sports-kamerad ist meine vermehrte Fototätigkeit ein Dorn im Auge. Ich lasse ihn gerne vorbeiziehen, er freut sich bestimmt um seine um zwei Sekunden verbesserte Endzeit.
Die letzte Steigung führt uns über die Loucherfluh (km 41), an der Engstelle haben sich wieder viele Zuschauer eingefunden. Auf einem Felsen werden uns Schoki, Traubenzucker und Trockenfrüchte als letzte Stärkung angeboten. Der Schlusskilometer führt am Fallboden-Speichersee vorbei und fast nur noch abwärts. Der künstlich angelegte See liefert im Winter das Wasser für die Schneekanonen an der Kleinen Scheidegg. Dann bin ich …leider im Ziel, des schönsten Bergmarathons der Welt. Was noch eine Weile bleibt ist die grandiose Aufsicht auf die gewaltigen drei und die Erinnerung an einen herrlichen Tag an dem es aber auch überhaupt nichts auszusetzen gab.
Bis man die Eindrücke verarbeitet und sein Gepäck abgeholt hat, kann man bereits an den Tafeln die ausgehängten Endzeiten begutachten. Am Ende fehlen mir ein paar Minuten auf meine ausgedruckte Zeitenvorgabe, die liegen im Staub auf der Moräne und an den Steilwänden von Eiger, Mönch und Jungfrau.
An den Zeitentabellen treffe ich noch Christoph Geiger „The Legend“, eifrig studiert er die Endzeiten seiner Mitkonkurrenten. Heute hat er mit seinen 5:10 h einem den Vortritt lassen müssen, was ihn, glaube ich schon etwas wurmt. Aber das hat er jetzt davon, letztes Wochenende musste er ja beim UTMB teilnehmen und am Donnerstag wegen dessen Verkürzung noch einen Marathon als Training laufen. Aber, er gehört auch zu den Doppelstartern, morgen gibt‘s so für ihn die Möglichkeit, die Sache wieder gerade zu rücken …in der M70 wohlgemerkt! Bevor ihr lange sucht, natürlich hat er am Sonntag gewonnen. Ich muss mal zusammenzählen: 230 km, mindestens 10.000 Höhenmeter und das alles in einer Woche …auch so eine unglaubliche Geschichte.
2012 – 6.317 Finisher aus 70 Nationen bezwingen die Jungfrau. Ich kann mir mittlerweile nichts schöneres mehr vorstellen als ein Lauf in den Bergen.
Mario ist am Sonntag dran. Sein Knie ist ein großer Unsicherheitsfaktor, daher geht er, ganz unüblich für ihn, wirklich nur ganz langsam an und kommt auch ohne größere Probleme ins Ziel. Sein 25. Marathon und mehr ist im Sack, wie es mit dem Knie weiter geht, ist noch ungewiss.
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