„Der
verlorene Sohn“
Eigentlich ist die Tour de Tirol ja ein Wettbewerb bestehend aus
drei Teilen mit insgesamt 73 Kilometern. Am Freitag gibt’s
den Alpbachtaler Zehner, am Samstag einen Marathon und zum Abschluss
am Sonntag den Kaiserwinkl Halbmarathon. Mir ist ein schnell gelaufenes
10 km-Rennen vor einem Marathon zu strapaziös und einen 4-Rundenkurs
nur durch zu joggen, gefällt mir auch nicht. Zudem würde
sich nach einem Temporennen mein Musculus piriformis wenig begeistert
zeigen, am Folgetag einen Marathon zu laufen. Bei mir äußert
sich das schon chronisch durch unangenehmes Stechen in den A…backen,
wer’s genau wissen will. Darum lasse ich das sein und konzentriere
mich nur auf den Kaisermarathon Söll.
Und dieser hat heuer auch eine tolle Aufwertung erfahren, er wurde
in den erlesenen Kreis des Mountain-Marathon Cup aufgenommen. Darin
vertreten sind so klangvolle Namen wie der LGT Alpin Marathon Liechtenstein,
der Zermatt Marathon und der Jungfrau Marathon. Da das Rennen hier
in Tirol vom Schwierigkeitsgrad hervorragend in das Anforderungsprofil
der drei Gründungs-veranstaltungen passt, kommt die Aufnahme
nicht von ungefähr. Der diesjährige Lauf macht den Auftakt
zur MMC-Serie 2011, nächstes Jahr geht es dann mit den drei
restlichen weiter. Auswertungen haben ergeben, dass die gelaufenen
Zeiten aller vier Marathons durchaus vergleichbar sind, deshalb
wird es ein Streichresultat geben, damit nicht alle vier Läufe
absolviert werden müssen. Gewertet werden letztendlich nur
die drei besten Resultate mittels Addition der Laufzeiten.
In den letzten vier Jahren hat immer Anton das Feld hier beackert
und m4y vertreten, heuer darf ich mal mein Glück versuchen.
Begleitet werde ich noch von Jan und Mario. Die Anfahrt am Freitagabend
gestaltet sich für uns aus Augsburg über die staugefährdete
A8 nach Tirol problemlos. Über die Ausfahrt Kufstein-Nord gelangen
wir auf kleineren Bundesstraßen nach Söll. Es gäbe
auch die etwas schnellere Variante über die Ausfahrt Wörgl,
wegen der paar Kilometer will ich aber kein Pickerl für die
österreichischen Autobahnen lösen und man kann es sich
auch getrost sparen. Das Abholen der Startunterlagen ist heute nur
bis 17 Uhr im Festzelt möglich, darum können wir uns auf
direkten Weg zum privaten Carboloading machen.
In der Nacht wird es etwas unruhig für mich, meine vorabendliche
Teufelspizza zwingt mich zu mehreren unvorgesehenen Boxen- ...ähh,
Toilettenstopps. Da habe ich wohl einige Zutaten nicht richtig vertragen.
Ob es jetzt Zufall ist dass heute zufällig mein 13. Marathon
2010 ansteht, mag ich nicht beurteilen. Persönlich bin ich
da ja eher nicht abergläubisch, aber man denkt trotzdem irgendwie
daran. Nachdem in mehren Sitzungen alles meinen Körper verlassen
hat und ich glücklicherweise auch noch eine Packung Tabletten
eingepackt habe, haben sich am Vormittag wieder alle Probleme verflüchtigt
und einem ungefährdeten Start steht nichts im Wege.
Da der Start erst um 10.30 Uhr stattfindet herrscht am Morgen keine
große Hektik. Eine Stunde vorher begeben wir uns ins Festzelt
um die Startnummern zu empfangen. Hier ist auch so gut wie gar nichts
los, die meisten von den ca. 320 Startern sind bei der Gesamttour
unterwegs und sind bereits versorgt. Nur gut 100 Einzelstarter kommen
noch zusätzlich zum Marathon dazu. In unseren Unterlagen befindet
sich wieder einmal eine mir ganz unbekannte Art von Zeitmesschip.
Genauer gesagt sind es gleich zwei. Die beiden 20 cm langen gelochten
Papierstreifen mit Chip auf der Rückseite werden in U-Form
in die Schnürsenkel eingefädelt. Alles kein Problem mit
unseren normalen Schuhbandeln, aber ob das auch so zuverlässig
bei anderen Schnürsystemen, wie z.B. bei den Salomon Schuhen
funktioniert kann ich nicht ausprobieren. Ich habe meine nicht dabei,
weil ich mit Lightweight-Latschen auf die Piste gehen werde.
15 Minuten vor dem Start wird unter dem Startbogen mehrmals verbal
zur Probe gestartet, aber nicht für uns Läufer. Für
den neuen Film „Der verlorene Sohn“ mit Ex-Skistar,
Volksmusikant und Schauspieler Hansi Hinterseer werden Startszenen
gedreht. In dem Film hat unser Held während eines spektakulären
Extrem-Berglaufs eine Rettungstat zu vollführen. Mehrmals wird
zum Start runtergezählt und des Startprozedere eingespielt.
Unser Real-Start und zudem Aufnahmen von der Strecke während
des Kaisermarathons sollen in den Film integriert werden. Wir sind
heute also auch Statisten für diesen TV-Movie. Ja, da muss
ich mir jetzt doch tatsächlichen im nächsten Jahr auch
diesen Film ansehen, der in ARD und ORF ausgestrahlt wird. Meine
Mutter wird selbstverständlich begeistert sein.
Bei uns klappt der Start beim ersten Mal und muss nicht wiederholt
werden, so können wir uns pünktlich auf den Weg machen.
Eine erste leichte Steigung zum warm werden erwartet uns nach einem
Kilometer. Herrlich angenehme Temperaturen machen das Laufen zu
einem Vergnügen, die paar Höhenmeter tun uns auch noch
nicht weh. Die erste Getränkestation ist am Hotel AlpenSchlössl
für uns eingerichtet. Viel Sonne, bedeutet natürlich für
uns auch viel Trinken. Am Fuße des Großen Pölven
laufen wir auf einem Teilstück eines Waldlehrpfades zurück
Richtung Söll. Auf zehn Stationen werden die bekanntesten Baumarten
der Region und der „Lebensraum Wald“ erklärt.
Im Ort zurück sind 7 km geschafft. Auf dem Höhenprofil
des Veranstalters sieht dieser erste Abschnitt recht flach aus,
da sollte man sich aber nicht täuschen lassen, es geht meistens
entweder leicht auf oder ab. Und im gleichen Stil führt uns
der Weg weiter, nicht sonderlich spektakulär, aber die teilweise
doch längeren nur mäßigen Aufwärtsstücke
sind im Tempo schon leicht spürbar. Nicht ganz unerwartet haben
wir dann bei der HM-Marke doch bereits 400 hm aufwärts und
fast 300 abwärts hinter uns gebracht.
Auf der kompletten Strecke fallen mir immer wieder die detaillierten
und permanent installierten Kilometerschilder aus Holz auf. Das
hat einen einfachen Grund. Als ganz besonderes Schmankerl bietet
das Tourismusbüro Söll allen die Möglichkeit an,
zu jeder Zeit den Kaisermarathon abzulaufen oder -wandern. Im Infobüro
Söll kann man sich eine Streckenkarte mit Stempelbuch abholen.
Diese muss man an zehn eingerichteten Stellen (Cafés, Almen
etc.) abstempeln lassen und als Belohnung bekommt man dafür
sogar noch ein kostenloses Kaisermarathon Finisher T-Shirt. Tolle
Sache finde ich und wer nach meinem Bericht Lust darauf hat, der
kann durchaus mal in Erwägung ziehen einen Urlaub in Tirol
zu verbringen.
Halbzeit in Ellmau
Verblüfft bin ich darüber, dass exakt an der Zeitmessmatte
der Halbmarathonmarke der Anstieg in den alpinen und rustikaleren
Teil unseres Marathons beginnt. Wie die Streckenvermesser das wohl
hinbekommen haben? Oder alles nur reiner Zufall? Direkt neben der
Talstation der Hartkaiserbahn in Ellmau ist für uns der Einstieg
in die richtige Bergwelt. Aber vorher können wir uns noch mal
anständig verpflegen und Energie tanken. Ich glaube erstmals
heute gibt es die komprimierte Red Bull Variante, den Energy Shot.
Das kleine Fläschen soll die gleiche Wirkung haben wie eine
große Dose und auch eine ähnliche Wirkung wie Energie
Gels erzeugen. Daher probier ich es jetzt aus. Einen Vorteil gegenüber
Gels kann ich sofort ausmachen, es ist ruckzuck verschlungen und
das ist schon mal wesentlich positiver wie das Gel-Runtergewürge.
Also, packen wir’s an, bis zum Hartkaiser sind auf den nächsten
7 km fast 800 hm zu erkraxeln. Gleich geht es rein in den schattigen
Wald, wo unser Weg auf wurzeligen und auch mit Treppen durchsetzten
Trails steil nach oben führt. Weiter geht’s über
die Ellmauer Ski-Talabfahrt zur Rübezahlalm, dort treffe ich
auf Mario, der gerade am fotografieren ist. Was knipst der denn
da? Es ist die erste von 22 Schnitzfiguren. Die folgenden 3 km werden
wir auf Österreichs längsten Schnitzfiguren-Wanderweg
zurücklegen. Allesamt eigenhändig vom Wirt der Rübezahl-Alm
mit der Motorsäge erschaffen. 2007 wurde der Weg von Rennfahrer
„Striezel“ Stuck eröffnet, ihm ist auch eine Figur
gewidmet, die hab ich aber leider irgendwie übersehen.
Nach verlassen des Waldes bietet sich uns ein herrlicher Blick hinüber
zum Wilden Kaiser. Alle paar hundert Meter können wir zudem
eine neue Schnitzfigur bewundern. Da kommt für mich natürlich
wieder einiges an Fotostopps zusammen, muss doch einige auslassen
sonst komm ich ja nie nach oben. Mario konnte ich am Berg stehen
lassen, wenig später kann ich Jan einholen, er nimmt sich auch
gerade eines der Kunstwerke unter die Lupe und macht ein paar Bildchen.
Eine Schnitzerei ist Bruno dem Bären gewidmet, der Seinerzeit
bei uns in Bayern zum Abschuss freigegeben worden ist. Mir wäre
lieber er könnte noch leibhaftig unter uns sein. Am Panoramarestaurant
Bergkaiser ist es vorbei mit den Kunstwerken und auch dieser erste
Steilabschnitt ist größtenteils bei km 28 erledigt.
Wenig später passieren wir wieder das Filmteam, hier werden
noch einige Einstellungen gedreht. Die Rettung „des verlorenen
Sohnes“ wird wohl nicht dabei sein, da soll im Film angeblich
ein Schneesturm während des Laufes aufziehen, was wir natürlich
heute nicht gebrauchen können und glücklicherweise auch
nicht zu erwarten ist. Ja, so ein bisschen erinnert mich das ausschnittsweise
schon an den Zugspitzlauf 2008, ob der wohl eine kleine makabere
Vorlage für das Drehbuch war?
Ab km 31 darf an Laufarbeit wieder deutlich zugelegt werden, die
nächsten 8 km führen bis Hexenwasser überwiegend
bergab. Jan ist in seinem Element und kann sich in null Komma nix
von mir absetzen, wie immer versuche ich erst gar nicht ihm runterwärts
zu folgen. Auf unseren Laufwegen überqueren wir hauptsächlich
die Skipisten der SkiWelt Wilder Kaiser – Brixental. Im Vorjahr
und heuer bekam die Ski Arena die Auszeichung „bestes Skigebiet
der Welt“. Ich kenne mich hier sehr gut aus, alles kommt mir
bekannt vor. Früher war dies ein bevorzugtes Skigebiet für
mein Winterfreizeitvergnügen, aber seit Beginn meiner Marathonkarriere
komme ich leider kaum mehr zum Skifahren. 91 Lifte und Bahnen, 279
km Pistenspaß und 70 Einkehrschwünge verspricht die Headline
des Skiwelt-Prospekts.
Der Einkehrschwung wird uns bei km 31 dann auch tatsächlich
angeboten, mitten durch die Terasse der Tanzbodenalm führt
unsere Strecke. Mir würde jetzt auch ein schöner Schluck
Hopfenkaltschale munden. Ist ja alles schön und gut mit den
vielen Zuckerflashs in Form der Energy Shots oder Gels, was Schmackhaftes
zur Abwechslung so zwischendrin hätte schon was für sich,
aber leider ist das keine offiziele VP-Stelle. Bei km 35 erreichen
wir wieder eine vom Veranstalter, aber leider ist hier mit Bier
Fehlanzeige. Aber dafür ist die Aussicht wieder großartig.
Vor uns türmt sich die Hohe Salve in ihrer ganzen Pracht mit
seiner markanten Kegelform in die Höhe. Der Name „Salve“
stammt mit großer Wahrscheinlichkeit aus dem Lateinischen
und bedeutet „Sei gegrüßt“ und wirklich der
Gipfel grüßt freundlich zu uns herunter.
Aber bevor wir den finalen Schlussanstieg zum Gipfel in Angriff
nehmen, geht es erst noch weitere 4 km abwärts um den Berg
herum auf die andere Seite. Die kompletten Downhill-Kilometer vom
Hartkaiser herunter sind überwiegend hervorragend zu laufen,
es gibt kaum einmal ein steileres Stück wo man so richtig die
Bremsen einsetzen muss. An der Erlebniswelt Hexenwasser in Höchsöll
(km 39) beenden wir unsere rasante Abfahrt. An über sechzig
feucht-fröhlichen Stationen zum Thema Wasser können sich
hier Kinder verführen lassen. Der vielfach ausgezeichnete Wasserspielpark
lädt dazu ein, die Schönheit und Kraft des Bergwassers
mit allen Sinnen zu genießen und den Wert sauberen Wassers
wieder erfahrbar zu machen. Der Umstand beschert uns auch einiges
an Zuschauer-unterstützung. Beim Durchlauf werden wir zuerst
von einem Sprecher und dann von vielen Zuschauern begrüßt.
Finale furioso
Am 39er-Schild zeigt meine Uhr 4:22 Std. Laufzeit an, das würde
bedeuten dass ich mit einem 12 Minuten-Schnitt auf den Kilometer
noch unter 5 Std. das Ziel erreichen könnte. Ein Blick zur
Spitze hinauf lässt mich dann aber doch eher daran zweifeln,
dass das machbar ist. An Laufen ist bis zur 40er-Markierung nur
noch sporadisch für einige Meter zu denken, aber es lässt
sich noch auf einem Kiesweg ganz gut marschieren. Damit Schluss
ist aber endgültig als ich in die Wiese kurz vor dem Schild
einschwenke. Wie bei einem Abfahrtskurs sind links und rechts unserer
Strecke Markierungsfähnchen eingesteckt und es geht fast kerzengerade
über’s Grün nach oben. Nur noch mühsam kann
ich Meter für Meter aufsteigen, das pfeift jetzt so richtig
rein und quetscht einem den letzten Rest Energie aus dem Körper.
Ich habe momentan überhaupt kein Zeitempfinden mehr, wie schnell
ich denn eigentlich unterwegs bin, das Finale furioso hat es knüppeldick
in sich.
Die Piste wird immer rustikaler und beschwerlicher, aber irgendwann
meine ich, müsste langsam doch das 41er erscheinen. Nach Durchqueren
eines kleinen Wäldchens kann ich das Schild ausmachen, meine
Enttäuschung ist allerdings doch riesen groß. Man hat
hier noch eine 40,5 km-Markierung dazwischen geschoben, der Raumgewinn
ist also doch beträchtlich geringer als ich dachte. Hilft mir
natürlich jetzt auch nicht weiter, irgendwie muss es ja weiter
gehen. Nach einer Kuppe gibt es dafür wieder einen Versorgungsstand.
Energy Shot und Cola müssen bei mir wieder für etwas Auftrieb
sorgen. Und es geht jetzt auch glücklicherweise wieder etwas
leichter weiter, weil wir die Wiese überwunden haben und auf
einem ausgetrampelten schattigen Pfad diagonal über den Hang
geleitet werden. Mittendrin steht auch die ersehnte 41er-Markierung.
Puhh, der Gipfel muss wirklich beinhart erarbeitet werden.
Die nächste Kuppe bringt uns wieder ins grelle Sonnenlicht
und auf richtige Wege zurück. 41,5 km sind durch und beim Blick
entlang der Liftanlage hinauf sind schon schemenhaft die Gipfelaufbauten
zu erahnen. Auf den letzten 200 Metern geht’s noch einmal
durch eine Wiese, angetrieben von einer Trommlergruppe und vielen
Zuschauern die sich dieses Schlussspektakel nicht entgehen lassen.
Ja, ich würde hier auch gerne mal sitzen und zuschauen wie
denn die Spitzenläufer wie z.B. Jonathan Wyatt diesen Abschnitt
bewältigen. Für mich und die Leistungsklasse unmittelbar
vor und hinter mir ist das wieder nur im Schneckentempo zu absolvieren.
Nach über einer Stunde für die letzten 3 km bin ich glücklich
im Ziel, wo mir nach Medaille und Wärmefolie auch gleich ein
Becher Erdinger überreicht wird. Das nenne ich doch einen Service.
Jan wartet auch schon, wie immer hat er mir beim runter brettern
einige Minuten abgenommen. Mario folgt 10 Minuten später, allesamt
dachten wir ernsthaft daran die 5 Stunden-Grenze zu knacken, aber
letztendlich waren wir dann doch weit weg. Eine Stunde, +/- 10 Min.
je Leistungsniveau darf man schon in etwas ab km 39 einplanen. Im
hinteren Bereich bekommen wir noch ein sehr schönes Finishershirt
ausgehändigt und reichhaltige Verpflegung.
Schlusserkenntnis
Sehr gerne möchte ich den Kaisermarathon Söll auch Läufern
empfehlen die gerne einmal den Einstieg in die Welt der Bergmarathons
wagen möchten ...wenn, ja wenn denn bei km 39 Schluss wäre.
Da dies aber nicht der Fall ist, muss ich alles wieder zurücknehmen.
Mit dem Schlussanstieg auf die Hohe Salve ist er dann doch wieder
etwas nur für die Hartgesottenen. Aber, da gibt es ja noch
die schon beschriebene Möglichkeit die Strecke einmal ohne
Wettbewerbsdruck auszutesten. Hierbei kann man dies sogar abschnittsweise
in zwei oder gar drei Tagen erfolgreich durchziehen und evtl. das
„Finale furioso“ auf die Hohe Salve als separate Tagestour
einmal ausprobieren. |