Kletterspaß am Gemsenweg
Eine Schleife bringt uns wieder an den Ortseingang zurück, wo noch einige Nachzügler entgegenkommen. An der Schnittstelle geht es rechts ab auf den Gemsenweg. Der Name alleine sagt schon viel darüber aus, was uns auf den nächsten gut vier Kilometern erwartet: 940 Höhenmeter hinauf auf die steilen Abhänge unterhalb des Männlichen-Plateaus. Hier halten sich die vierbeinigen Meisterkletterer besonders gerne auf. Sonnen sich dort auf Felsvorsprüngen und grasen auf den saftigen Bergwiesen.
Für uns ist das schon ungleich kraftaufwendiger als für die Vierbeiner. Trotzdem, der erste Kilometer durch den Wald ist gut verträglich. Über der Waldgrenze wird es schlagartig steiler. 30 % Steigung sind keine Seltenheit. Dafür gibt es aber eine grandiose Aussicht ins Hintere Lauterbrunnental mit seinen gewaltigen, senkrecht abfallenden Felswänden.
Über Schönheit lässt sich ja streiten über den Zweck weniger. Dennoch, optisch höchst interessant finde ich die Lawinenverbauungen in Form von Stahlschneebrücken und …ja, wie soll ich sie nennen? Holzpflockpyramiden vielleicht. Die Monotonie der Pyramidenfelder kombiniert mit den diagonalen Stahl-Verstrebungen der Schneebrücken fasziniert mich irgendwie. Hätte sie Christo oder irgendein anderer berühmter Künstler installiert, würde der ganze Hang vielleicht sogar als Kunstwerk durchgehen.
Die Stahlschneebrücken zur Lawinenverbauung sind die am häufigsten verwendete Lawinenschutzmaßnahme. Sie sind bis zu vier Metern hoch und können bis zu 2,5 Tonnen Schnee pro Quadratmeter aufnehmen. Unser Weg führt manchmal direkt daran vorbei oder auch mal unten durch.
Herden von Gemsen hätten mir natürlich noch besser gefallen, aber von den wilden, kletterfreudigen Alpenbewohnern lässt sich keiner blicken. Einige Traversen mit mäßiger Steigung Richtung Männlichen sorgen für Erleichterung. Dann sind wir oben. Der Rettungshubschrauber auf dem Plateau ist glücklicherweise Arbeitslos.
Vor dem Berghaus Männlichen auf über 2.200 m wird die Zwischenzeit gemessen. Daneben liegt unsere zweite Verpflegungsstation. Cut-Off ist um 12:30 Uhr. Das sind 3:45 Stunden. Das ist nicht allzu üppig, daran wird der eine oder andere mit dem kräftezehrenden Aufstieg schon zu knabbern haben. Über 1.800 Höhenmeter sind bereits absolviert, die längsten Steigungen sind durch. Ich packe meine Stöcke wieder ein, benötige freie Hände für meine Kamera, für die nachfolgenden Höhepunkte der Strecke.
Über die Kleine Scheidegg zur Eiger-Moräne
Nächste Station ist für uns die Kleine Scheidegg. Auf einem Wanderweg der von den Bergbahnen vom Männlichen zum Bahnhof mit der Endstation der Wengernalpbahn und der Ausgangsstation der Jungfraubahn führt, herrscht natürlich reger Ausflugsverkehr. Das bedeutet für uns deutlich mehr Aufmerksamkeit. Viele der meist asiatischen Wanderer nehmen von uns Trailrunnern kaum Notiz, so müssen wir Langnasen auf der Hut sein und manchmal auch Slalom-Schwünge einlegen.
Dafür bekommen wir aber wieder einmal eine spektakuläre Aussicht geboten. Wir laufen meistens direkt auf Eiger, Mönch und Jungfrau zu. Besser präsentieren sie sich heute gesamtheitlich nicht mehr. Der Schotterweg ist leicht abschüssig und komfortabel zu Laufen.
Etwas oberhalb der Kleinen Scheidegg trennen sich die Wege des E101 und des E35 für einige Kilometer. Für die Ultra Trailer ist hier eine extra Schleife über die Lauberhornschulter und Wengernalp mit einigen zusätzlichen Aufstiegsmetern eingeschoben.
Neben dem Bahnhof an der Kleinen Scheidegg ist eine kleine VP für uns eingerichtet. Auf einem ganz schmalen Wiesentrail geht es weiter, hier stehen uns einige Wasserpfützen und Schlammlöcher im Wege. Verursacht durch den vielen Schnee zu Wochenmitte, der aber hier auf 2.000 m wieder komplett abgetaut ist. Vorgestern lagen noch 30 cm.
Der nächste Aufstieg ist auf den ersten 1,5 Kilometern identisch mit der Jungfrau-Marathon-Strecke. Nach einem Kilometer erreichen wir das Highlight des Jungfrau Marathons, der natürlich auch ein Höhepunkt des Eiger Ultra Trails ist: die Gletschermoräne des Eiger. Eine frei passierbare Eiger-Moräne hätte ich mir bei meinen Teilnahmen am Jungfrau Marathon immer schon mal gewünscht. Obwohl mein letzter Einsatz erst vier Jahre her ist, kann ich mich gar nicht mehr erinnern dass es hier so derart steil rauf geht, dass man trotz freier Bahn nur im Schneckentempo vorankommt. Ohne eine Windung geht es auf den Gesteinsablagerungen des früheren Gletscherrandes unbarmherzig nach oben. Gewaltig ist der Anblick der jetzt deutlich höher gelegenen Gletscherzunge.
Während beim Jungfrau Marathon nur die Hälfte der Moräne absolviert wird, geht es für uns ganz hinauf, etwa doppelt so weit. Mein Akku ist gerade ziemlich leer, ich schleppe mich nur mehr mühsam voran. Musste ich meinen geplanten Einsatz beim E101 im Vorjahr noch wegen Knieproblemen streichen, so kann ich mir im Moment, nach gedanklicher Addition von E51 und E35, überhaupt nicht mehr vorstellen, das noch einmal in die Tat umzusetzen. Vielmehr ziehe ich meinen Hut oder besser mein Buff vor allen Teilnehmern auf der Hunderter-Strecke. Es ist schon eine außergewöhnliche Leistung nötig um dort das Ziel zu erreichen.
Dann bekommen wir doch noch unseren Schnee, ab einer Höhe von 2.300 m, kurz unterhalb der Station der Jungfraubahn, ist das Gelände noch leicht schneebedeckt. Im Fels hinter der Nordwand führen Teile des großen Tunnels auf das Jungfraujoch. In der Wand befindet sich die Aussichtsgalerie der Station Eigerwand. In dem vier Kilometer langen Tunnelstück befinden sich sieben Löcher. Das berühmteste ist das sogenannte „Stollenloch“, ein Ausbruchstollen der Jungfraubahn. Das Stollenloch bei Kilometer 3,8 ist der traditionelle Fluchtweg aus der Wand und so mancher Bergsteiger verdankt ihm sein Leben.
Der nächste Schwung an Touristen ist auf dem Weg zum „Top of Europe“, dem höchste Bahnhof Europas auf 3.454 Meter. Wir durchlaufen die Bahnstation und werden von einigen begeistert angefeuert. Über die Gleise geht es weiter zum nächsten Höhepunkt.
|