"Jetzt
wird’s doch wieder nur ein Weicheierlauf"
Für die Anreise mit dem PKW von der A7 aus Bayern/Baden-Württemberg
gibt es nach Interlaken mehrere Variationen. Ich wählte die
meiner Meinung nach landschaftlich schönste und zugleich auch
mit die kürzeste Strecke. Über Boden-, Walen-, Zürich-,
Vierwaldstätter- und Sarner See erreichen wir locker, ohne
größere Verkehrsprobleme Interlaken.
Durch den Bau der Berner Oberland-Bahnen nach Lauterbrunnen und
Grindelwald 1890 und der Jungfraubahn 1912 erlebte Interlaken einen
großen Aufschwung. Bis auf 3454 m führt die Bahn durch
einen sieben km langen Tunnel durchs Eigermassiv zum höchsten
Bahnhof Europas, zum "Top of Europe", dem ultimativen
Ausflugsziel im Berner Oberland. Zwischen Brienzer- und Thunersee
liegt der Ort auf einer "Bödeli" genannten Schwemmebene.
Die beiden Seen werden durch die Aare verbunden, welche durch Interlaken
fließt und wunderschöne touristische Ausblicke bietet.
So schön die vielen Seen und das Wasser von unten anzusehen
sind, leider kommt auch recht viel von oben hinzu und das ist wiederum
für die für Samstag bevor stehende Bergtour denkbar ungeeignet
und unerwünscht. Noch dazu, weil mit dem Jungfrau Marathon,
einer der schönsten, wenn nicht gar "der" schönste
Berg-Marathon der Welt ansteht, wie er von vielen tituliert wird.
Und den würde ich mir doch ungern verwässern lassen.
War es bei der Anfahrt noch recht durchwachsen, aber auch noch mit
Sonne gemixt, zieht es sich am Abend immer mehr zu. Die bereits
heute statt findenden Jungfrau-Minirun, -Mini-Marathon, -Pararace
und -Mile finden allesamt bei noch leichtem, aber schon durchgehendem
Regen statt. Und… es wird immer schlechter und auch windiger.
Wie soll man die Jungfrau taktisch angehen? Jeder Bergmarathon hat
ein anderes Profil, im heutigen Fall sind die Fakten: erstmal 25
km relativ flach und der Rest nur mehr steil hinauf. Ausgiebig habe
ich frühere Laufberichte auf marathon4you.de studiert. Die
unterschiedlichsten Taktiken und Tipps bekommt man geboten. Hier
mal eine kleine Auswahl:
Klaus Klein: "Bis nach Wilderswil ist die Strecke absolut
flach. Man sollte sich aber seine Kräfte auf diesen ersten
10 km gut einteilen und den Lauf gemächlich angehen. Die wahren
Herausforderungen stehen weiter oben an."
Klaus Sobiray: "Gemütliches Traben ist im Hinblick
auf die noch bevorstehenden Herausforderungen sicher kein falscher
Einstieg."
Die beiden sind sich schon mal ziemlich einig, Eberhard Ostertag
dreht den Spiess um und sagt: „Nur das vordere Läuferfeld
und das Feld ganz hinten kann ab Kilometer 38 ungestört laufen,
alle anderen, also der größte Teil der Teilnehmer, werden
auf den letzten sechs Kilometern ausgebremst. Es könnte also
eine mögliche Taktik sein, bis km 38 richtig Gas zu geben.
Auf den restlichen Kilometern kann man sich dann erholen.“
Eine wunderbaren Tipp hat auch Heike Lamadé parat: "Warum
so schnell laufen, es ist doch so schön hier!"
Marathon Teil 1 – Alles relativ flach
Um Punkt 9 Uhr ist Start und ich bin ich mir trotz aller guten Ratschläge
immer noch im Ungewissen. Mit Mario gemeinsam werde ich das Rennen
angehen, er meint vorher: "Lass uns mal gemütlich mit
einem 5:30 – 6er-Schnitt angehen". Sehe ich als sinnvolle
Aussage an und beschließe mit ihm gemeinsame Sache zu machen.
Allerdings kenne ich auch Mario allzu gut und weiss, dass langsam
Laufen nicht sein Ding ist. Ich lass mich mal überraschen.
Mit einem gewaltigen Böllerschuss und Riesen Begeisterung aller
Anwesenden werden wir losgeschickt. Die ersten Kilometer führen
in einer Schleife durch Interlaken und bei km 3 passieren wir den
Startbanner ein zweites Mal. Ganz Interlaken scheint auf den Beinen
zu sein. Dichtgedrängt stehen die Zuschauer auf der Startgeraden
über mehrere hundert Meter und peitschen uns erneut ins Rennen.
Für die ersten vier Kilometer benötigen wir 20 Minuten,
damit bestimmt also Mario die heutige Taktik. War nix mit gemütlich
angehen. Ich werde versuchen, Eberhards Tipp in die Tat umzusetzen.
Hans ist weiter vor uns, er läuft sowieso schnell an. Nach
5 Kilometern erreichen wir in Böningen das Ufer des Brienzer
Sees, wieder werden wir von unzähligen Menschen und Live-Musik
empfangen. Über Wilderswill und Gsteigwiler erreichen wir kurz
nach der 10 km-Marke die erste Steigung, am Ende des Ortes geht
es schon spürbar hoch. Überall sind die Flaggen gehisst
und die Straßen sind voll von begeisterten Zuschauern, gepaart
mit den richtig angenehmen Temperaturen könnte es gar nicht
schöner sein.
Die erste Steigung nehmen alle locker hin, trotz der vielen Läufer
gibt’s nirgends Stauungen. In Zweilütschinen (km 15)
überqueren wir die Gleise der Berner Oberland Bahnen, den Namen
hat der Ort vom Zusammenfluss der Schwarzen und Weißen Lütschine
und genau an der führt unser weiterer Weg entlang. Leicht wellig,
mal etwas runter, aber tendenziell doch schon meist leicht aufwärts
geht’s durch ein Tal, immer am wildromantischen Fluss entlang.
Über diverse Brücken und Stege überqueren wir des
Öfteren die Lütschine. Einmal gibt’s dann doch einen
kurzen Stopp an einer Engstelle, da passt einfach nur immer einer
nach dem anderen durch.
Nach 19 Kilometern ist Lauterbrunnen erreicht. Am Ortsanfang am
Bahnhof gibt es eine Kontrollstation, wer um 11.25 Uhr nicht durch
ist, wird aus dem Rennen genommen. Ein erster Höhepunkt ist
der Ortsdurchlauf. Wieder stehen die Zuschauer über mehrere
Hundert Meter, viele haben Glocken, Rasseln oder sonst was und machen
ein Spektakel. Überhaupt, auf der ganzen Strecke waren bisher
schon so viele Gruppen und Musiker verteilt, wie man es bei den
wenigsten Stadtmarathons vorfindet. Am Ortsende durchlaufen wir
die Halbmarathonmarke, Mario und ich schaffen es knapp unter 2 Stunden.
Weiter geht’s in das eindrucksvolle Lauterbrunnental, das
zwischen gigantischen Felswänden und Gipfeln liegt. Mit 72
tosenden Wasserfällen – der höchste stürzt
sich fast 300 Meter in die Tiefe – sowie lauschigen Tälern,
bunten Alpwiesen und einsamen Berggasthöfen ist es eines der
größten Naturschutzgebiete der Schweiz. Zwei Kilometer
laufen wir auf der rechten Seite ins Tal hinein, dann durchqueren
wir es auf einem Kiesweg und auf der anderen Seite des Tals führt
uns der Weg nach Lauterbrunnen zurück. Leicht abschüssig
geht es die Straße runter, wahrscheinlich ein letztes Mal
dass wir noch richtig auf’s Tempo drücken können.
Km 25 erreichen wir in 2:20, das würde laut meiner ausgedruckten
Zeitentabelle – die gab es, dem Marathon angepasst, auf der
Messe – auf eine Endzeit von knapp über 5 Stunden rauslaufen.
Bis hier haben wir etwa 250 Höhenmeter absolviert, alles war
gut laufend zu bewältigen.
Marathon Teil 2 – Es geht rauf
Ein paar Meter weiter ist es dann soweit, der erste Teil
dieses Laufes ist abgeschlossen, wir gehen in die Wand, ab jetzt
sind noch stolze 1600 Höhenmeter auf 17 Kilometern zu bewältigen.
Von m4y-Autor Wolfgang Schwabe gibt es hierfür die Aussage:
„dann ist sie da bei km 25,5 die Wand. Meine Taktik war,
zügig hoch marschieren und danach versuchen, locker weiterzulaufen."
In engen Serpentinen im Wald führt der Weg nach oben, auch
hier stehen noch viele Zuschauer und treiben uns mit Kuhglocken
an. Ab dem 26.250 Kilometerschild werden uns die Abstände bis
ins Ziel in 250 Meter-Abständen angezeigt. Hat schon was für
sich. Die Wand ist brutal steil, zügig hoch marschieren ist
hier nicht drin, bei niemanden. Es ist mit das steilste Stück
des kompletten Marathons. Mario bleibt hier fast die Spucke weg,
das hochkommen bereitet ihm doch sehr viel Mühe. Wegen Meniskusproblemen
konnte er nur wenig trainieren, einen Jungfrau Marathon lässt
man wegen so was natürlich nicht sausen, aber das rächt
sich natürlich.
Nach drei Kilometern gibt es endlich wieder flachere Stücke,
immer wieder kann ich abschnittsweise in Lauftempo übergehen.
Einen weiteren Stimmungshöhepunkt bietet uns Wengen bei km
30. Unvorstellbar, was hier los ist in dem Bergdorf auf fast 1300
m Höhe, zudem autofrei. Ich würde mal behaupten, dass
mehrere Tausend Zuschauer die Straßen säumen. Im Ortskern
geht’s durch ein Menschenspalier, das bestimmt nicht nur bei
mir für Gänsehautfeeling sorgt. Selbst mit müden
Beinen wird hier jeder versuchen, eine gute Figur abzugeben und
durchzulaufen.
Einige Musikgruppen wechseln mehrmals ihre Standorte, dank ihrer
oft phantasievollen, glitzernden und bunten Outfits kann man sie
leicht wiedererkennen. Kuhglocken werden geschwungen an allen Ecken
und Enden. Gabi habe ich auch hierher beordert, um eventuell auf
wärmere oder trockene Kleidung zu wechseln. Mein klatschnasses
Hemd hätte ich jetzt gerne eingetauscht. Aber just in der Zeit,
als ich hier durchlaufe, war sie mal dringend auf dem Örtchen
entschwunden. Ob ich sie in dieser Menschenmenge überhaupt
entdeckt hätte, wage ich auch mal zu bezweifeln.
Bei km 34 kreuzen wir die berühmte Lauberhorn-Abfahrt von Wengen,
einem Mythos des Skisports – und die ultimative Herausforderung
für die Abfahrer. Sie ist die längste Abfahrt mit 4,45
Kilometer und 2:30 Minuten Fahrzeit und auch eine der ältesten,
ausgetragen wird sie seit 1930. Am Haneggschuss, den wir gerade
überqueren, werden Geschwindigkeiten bis zu 160 km/h erreicht.
„Diese Abfahrt fordert alle Athleten und wird einige an ihre
physische Grenze bringen“, meinte der deutsche Speedtrainer
im Winter. Fast wie bei uns, nur müssen wir in die entgegen
gesetzte Richtung. Und ich spüre es gerade deutlich, bisher
bin ich auf weniger steilen Abschnitten immer gelaufen, jetzt habe
ich aber doch einen Durchhänger, lass das mal bleiben und teile
mir die Kräfte lieber etwas ein. Immer wieder sehe ich mich
mal nach Mario um, aber es ist nichts von ihm zu sehen.
Seit Lauterbrunnen wird uns fast alle zwei Kilometer eine Verpflegungsstelle
geboten. Wasser, Iso, Cola, Bouillon, Gels, Bananen und Energy Riegel,
alles wird im Überfluss gereicht. Ich hab mir selbst einige
Gels und Riegel als Notfall eingepackt, aber Verpflegung braucht
hier wirklich keiner mit hochschleppen. Sogar die Möglich einer
Wadenmassage wird einem an mehreren Stellen angeboten. Wir werden
wirklich bestens versorgt.
Ganz unerwartet steht bei km 36 auf einem Hügel die schwarze,
archaische Ausführung des Mountainpipers. Er muss heuer neu
sein, zumindest kann ich mich nicht erinnern, mal von ihm gelesen
zu haben. Mit seiner wilden, schwarzen Fellmütze macht er doch
einen gehörigen Eindruck auf mich, würde mich nicht wundern,
wenn jetzt ein paar wilde Highländer herangestürmt kämen.
Vor uns auf dem Weg liegen jetzt majestätisch die weißen
Riesen Eiger, Mönch und Jungfrau, ich kann mich gar nicht satt
sehen. Einen Kilometer weiter geht es erst noch in eine kleine Senke
runter und kurz danach verlassen wir den gut zu laufenden Kiesweg.
Über teils rutschige Wiesentrails zieht die Läuferkarawane
wie auf einer Perlenkette aufgereiht über die Wengeralp. Bei
km 37,9 erreichen wir die Skistation Wixi. Hier ist die finale Cut-Off-Stelle.
Wer um 14.35 Uhr nicht durch ist, für den heißt es dann
"Rien ne va plus". Am Gatter wird seit letztem Jahr ein
neues System mit einer kurzzeitigen Doppelführung der Strecke
durchgeführt. Ab einer Laufzeit von 3:45 bis 4:45 Std. sollen
konsequent in 3-Minuten-Intervallen die Läufer auf die Ausweichstrecke
geführt werden. Die Organisatoren hoffen dadurch die Staubildung
auf ein Minimum reduzieren zu können.
Ich werde auf die Ausweichstrecke nach links geführt und prompt
geht es nur mehr recht langsam und zähflüssig voran. Ärgerlich
bin ich deswegen aber nicht, so kann ich doch wesentlich einfacher
meine Fotos knipsen und halte nicht jedes Mal die Nachfolgenden
auf. Zudem ist die Aussicht einfach genial.
Mario, der in Wengen noch einige Minuten hinter mir gelegen ist,
wird auf die Originalpiste geschickt. Kurz vor der Moräne bei
km 40 kann ich ihn entdecken, nicht mehr weit hinter mir. Ein Indiz
dafür, dass man dort etwas schneller war. Die letzten beiden
Kilometer können wir dafür jetzt wieder gemeinsam in Angriff
nehmen. Gescheitert ist hiermit aber leider unsere und auch Eberhards Idee
des schnellen Angehens, um einem eventuellen Stau auf diesem Teilstück
zu entgehen. Oder aber, wir waren einfach immer noch zu langsam.
Der Plan wird nur für Läufer aufgehen, die die ersten
25 km deutlich unter zwei Stunden zurücklegen können.
Für den gut vier Kilometer langen Abschnitt vom Wixi bis ins
Ziel benötigten Mario und ich über eine Stunde. Hans,
der hier 35 Minuten vor uns lag und diese zwei Stunden unterbot,
konnte das Stück immerhin 20 Minuten schneller hinter sich
bringen. Wer will aber bei der grandiosen Aussicht überhaupt
hier schnell durchlaufen?
Am Ende der Moräne steht der Original Dudelsackbläser,
seit einigen Minuten hat er aber mal eine Pause eingelegt. Kurz
bevor wir ihn erreichen, sage ich etwas lauter im Spaß, "jetzt
sind wir so weit gelaufen und nicht einmal die Musik spielt für
uns". Das lässt er sich nicht zweimal sagen und prompt
setzt er wieder zum Spielen an. Noch ein kleines Stück geht
es hoch, dann haben wir den höchsten Punkt auf über 2200
m. N.N. erreicht. Auf einem Felsen wird uns für den Schlusssprint
noch Schweizer Schoki angeboten. Das Bergabstück ins Ziel kann
jetzt wieder laufend bewältigt werden. Für Mario ist es
dann aber doch nicht ganz so einfach, kurz vor einem Wadenkrampf
humpelt er doch eher etwas.
Auch im Zielbereich treffen wir wieder auf ein dichtes Menschenspalier.
Einfach unglaublich, wie viele Zuschauer die komplette Strecke gesäumt
haben. Mario und ich schaffen es auf die Sekunde die gleiche Zeit
zu erreichen. Ob unsere Taktik jetzt die richtige war, kann ich
nicht hundertprozentig beantworten. Beim einem nächsten Mal
würde ich vermutlich ein etwas langsameres Anfangstempo wählen,
um auf dem steileren Abschnitt etwas mehr Kraft zu haben.
Als Resümee fällt mir noch die Aussage von m4y-Macher
Klaus ein: "Dabei sein ist alles!" Dem kann ich
eigentlich nur wenig hinzufügen, man muss diese grandiose Stimmung
und die phantastischen Ausblicke einfach erlebt haben. Egal mit
welcher Taktik.
Am Sonntag geht's leider wieder zurück in die Heimat, aber
nicht ohne vorher noch etwas zum shoppen zu gehen. Alle separat.
Wo treffen wir uns wieder? Im Schweizer Schoki-Laden natürlich. |